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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

952–954

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

McGinn, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Mystik im Abendland. Bd. 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300–1500). Aus d. Engl. übers. v. B. Schellenberger. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 846 S. gr.8°. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-451-23384-5.

Rezensent:

Werner Thiede

In Band 1 dieses gewaltigen Opus war 1994 der vierte Band noch unter dem Untertitel »Krise« vorangekündigt worden. Dass er jetzt den Untertitel »Fülle« trägt, mag unter anderem etwas mit dem äußeren Umfang zu tun haben – ist doch dieser Band mehr als 300 Seiten dicker als der erste! Aber auch inhaltlich kommen hier nun u. a. die großen deutschen Meister der Mystik ausführlich zur Darstellung: Eckhart, Seuse und Tauler, dazu am Ende Nikolaus von Kues. Neben ihnen haben neue Bewegungen wie die »Gottesfreunde« sowie zahlreiche spirituelle Einzelschriften die Verbreitung des mystischen Weges gefördert. Da ist inmitten einer welt- und kirchenpolitisch spannungsreichen Zeit zweifellos mehr Reichtum und Fülle als Krise!

Doch wird im 14. und 15. Jh. tatsächlich auch viel von der Krisenhaftigkeit der Mystik sichtbar und spürbar. Der emeritierte Kirchengeschichtler und Religionshistoriker der Divinity School in Chicago versucht, dem mit einem eigenen Kapitel unter der Überschrift »Mystik und Häresie« gerecht zu werden. Er erläutert eingehend, wie es auf bis dahin nicht gekannte Weise zu heftigen Auseinandersetzungen über die Rechtgläubigkeit bestimmter Formen der Mystik kam. Dabei betont er, »dass zumindest im Christentum das mystische Element in einer unabdingbaren Beziehung zur orthodoxen Lehre steht« (95). Häretische Formen von Mystik er­streckten sich u. a. auf die Gebiete des Esoterischen und/oder des Moralischen. Vor allem die sich häufenden Behauptungen einer substantiellen Identität von Gott und Mensch bzw. Seele (be­sonders in der Bewegung vom Freien Geist) stellten eine eminente Herausforderung für Theologie und Kirche dar. Dass die fällige Kritik schließlich zu Verfolgung und Gewaltanwendung im Rahmen der Inquisition führte, zählt zu den dunkelsten Kapiteln der Kirchengeschichte, streicht aber die theologische Legitimität, ja Dringlichkeit einer Unterscheidung der Geister nicht durch.

McG. verschweigt nicht, dass der große Meister Eckhart sachlich mit Grund der Häresie angeklagt wurde (121). Der Darstellung seines mystischen Denkens ist der umfangreichste Teil des Bandes gewidmet – basierend auf McG.s Buch »The Mystical Thought of Meister Eckhart« (New York 2001). Einleitend wird die deutsche Metapher des »Grundes« ausführlich beleuchtet, die von Eckhart zwar nicht erfunden, aber doch zu einem zentralen Bild seiner mystischen Lehre gemacht worden ist. Die These »Gottes Grund und der Seele Grund ist ein Grund« (152 u. ö.) steht für einen programmatischen Monismus neuplatonischer Prägung.
Zwar kann Eckhart betonen, dass die Seele ihrem Wesen nach kreatürlich sei. Aber auch das Gegenteil lehrt er, weil er kreisförmig an Ausfluss und Rückfluss denkt: In ihrem Kern komme die Seele aus dem Ungeschaffenen. Daher bleibe sie auch nach dem Sündenfall fähig zur Ausrichtung auf Gott. Alle Seligkeit des Menschen hänge daran, dass er über Geschöpflichkeit und Zeitlichkeit hinausschreite und eingehe in den »grundlosen Grund«. Dass Eckhart die christliche Lehre vom dreifaltigen Gott teilt, arbeitet McG. deutlich heraus. Aber neuplatonischer Logik zufolge ist die Ebene der Trinität noch nicht jene erstrangige, einfache Einheit Gottes, sondern eine erste Ausfaltungsstufe derselben (vgl. 211). Soweit Gott einfaltiges Eines ist, ohne alle Eigenheit, ist er »weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist« (228). Darum gelte es, zum »Gott jenseits von Gott« weiterzugehen. In diesem Sinne soll auch die Seele »einfaltig« werden, um schließlich im Dunkel der ewigen Gottheit zu vergehen. Am Ende »entwird« wie die Schöpfung auch Gott selber: Im verborgenen Dunkel des Einen erkennt er sich nicht einmal mehr selbst.

Damit sich die Gottesgeburt in der Seele überhaupt vollziehen kann, muss sich der Mensch zuvor rein, ja leer machen. Er muss sein Wissen zurücklassen und seinen Eigenwillen entmachten, also die Tätigkeit der höheren und niederen Seelenkräfte aufgeben und »durch Übung« die Seele auf den Punkt zusammenziehen, wo sie bloßer »Grund«, ja »Einöde« ist. Das kann er vermittels seines inneren Auges – in sich selber gekehrt, »so dass er Gott erkennt in seinem ihm eigenen Geruch und in seinem eigenen Grunde.« Der Mensch ist dann befreit von allen geschaffenen Dingen, zurückgekehrt in die Ungeborenheit. Eckharts Metaphysik des Fließens, nämlich des Aus- und Zurückfließens im Sinne des Emanationsgedankens wird eigens analysiert (220 ff.). Sie läuft darauf hinaus, dass letztlich nichts von Gott verschieden sei (251).

Diese Perspektive hat Eckhart auch christologisch begründet. McG. unterstreicht daher, dass die Lehre vom Grund als »im Kern christologisch gesehen werden« (219) müsse. Allerdings handele es sich um eine »funktionale Christologie« (270). Diese diagnostische Terminologie verdeckt freilich deren metaphysischen Gehalt: Demzufolge gibt es nur eine einzige göttliche Sohnschaft, weshalb jeder Mensch als derselbe Gott geboren werden muss. Dem entspricht die Lehre, dass der Logos bei seiner Fleischwerdung die Menschheit eines jeden Menschen angenommen habe (vgl. 275). So verfüge die Seele in ihrem Grund über die göttliche Kraft, »im ewigen Jetzt sowohl das Wort als auch sich selbst zu erzeugen« (277).

Auf Angriffe wegen seiner Lehren hatte Eckhart zunächst gelassen reagiert: »Mir genügt’s, dass in mir und in Gott wahr sei, was ich spreche und schreibe.« Doch später verfasste er eine Verteidigungsschrift und wandte sich direkt an den Papst. Der verurteilte schließlich nicht ihn, sondern einige seiner Sätze – als er bereits über ein Jahr tot war. Der päpstlichen Bulle zufolge hatte Eckhart am Ende seines Lebens eingelenkt und jene Aussagen bereut, die geeignet sein konnten, in den Köpfen von Gläubigen eine irrige oder dem Glauben feindliche Meinung zu erzeugen. Dies ist McG. wichtig, der Meister Eckhart ausdrücklich als Mystiker und nicht nur als Philosophen verstanden wissen will.

Kürzer, aber selbstverständlich gründlich werden Seuse und Tauler behandelt. Interessant ist McG.s Hinweis darauf, dass Tauler ausdrücklich einräumt, er sei nicht »in eigenem Erleben bis dahin gelangt« (453). Spricht das nicht dafür, dass gerade seine mystischen Spitzenaussagen (und vielleicht nicht nur seine!) vor allem auf monistischer Spekulation beruhen? Auch für den Universalgelehrten Kardinal Nikolaus Cusanus, dem McG.s Schlusskapitel gewidmet ist, besteht »mystische Theologie« einfach darin, dass »Gott existiere und nicht sichtbar sei« (727).

Die Darstellungsweise McG.s bleibt auch in diesem vierten Band von Solidität und Gründlichkeit gezeichnet, wobei die Breite des behandelten Stoffs noch keineswegs immer hinreichend abgedeckt ist. Beispielsweise hätte man zu Nikolaus von Kues als Mystiker vor allem mit Blick auf frühe Schriften und Predigten durchaus mehr sagen können. Auch hätte vielleicht ein Schuss mehr theologische Leidenschaft bei dieser so spannenden Thematik dem gewissenhaft durchgeführten Unterfangen nicht geschadet. Dass dieser vierte Band der Schlussband der monumentalen Gesamtdarstellung ist, wird nicht eigens gesagt; es ist aber auch kein weiterer angekündigt. Der Titel »Die Mystik im Abendland« würde allerdings mindestens einen weiteren Band fordern, denn mit Nikolaus von Kues ist die Geschichte der Mystik im Abendland keineswegs beendet. Von Luther über Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola, Böhme und Tersteegen bis hin zu Teilhard de Chardin und Hammarskjöld reicht die Herausforderung in Europa und den USA. Es wäre durchaus lohnend, auch die neuzeitliche Geschichte der Mystik mit entsprechender Gründlichkeit aufzuarbeiten.