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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

949–950

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter

Titel/Untertitel:

Von der Welt durch die Hölle zum Paradies – das mittelalterliche Jenseits.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2008. 254 S. m. 12 Abb. gr.8°. Kart. EUR 32,90. ISBN 978-3-506-756459.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Peter Dinzelbacher ist einer der produktivsten und vielseitigsten Mediävisten der Gegenwart. Diesen Eindruck bestätigt auch diese Aufsatzsammlung unter dem Titel »Von der Welt durch die Hölle zum Paradies«. Die hier zusammengetragenen Texte, die der Vf. bereits jeweils an anderer Stelle publiziert hat (ohne dass der erstmalige Publikationsort und das ursprüngliche Veröffentlichungsjahr genannt werden), beziehen sich auf die Jenseitsvorstellungen des gesamten Mittelalters. Ein unübersehbarer Schwerpunkt liegt aber auf der Zeit des Hoch- und Spätmittelalters – Epochen, über die der Vf. im Rahmen seines Gesamtwerkes am tiefgehendsten mit eigenen Forschungen in Erscheinung ge­treten ist.

Selbst wenn die Aufsätze im Band inhaltlich ohne Ab­setzung aufeinander folgen, könnte man die zehn vorgelegten Beiträge drei inhaltlichen Schwerpunktgruppen zuordnen, die jeweils unterschiedliche Aspekte mittelalterlicher Jenseitsvorstellungen zu erhellen suchen. Einleitend geht es grundlegend sowohl um »Mentalitätsgeschichtliche Aspekte der Todesfaszination« (9–37) als auch um die »Präsenz des Todes im Spätmittelalter« (39–65). Drei Aufsätze befassen sich mit dem jenseitigen Gericht: In dem Beitrag »Persönliches Gericht und Weltgericht« (67–97) sucht der Vf. die moderne Rede von mittelalterlichen Gerichtsvorstellungen theologisch zu differenzieren. »Das Fegefeuer in der schriftlichen und bildlichen Katechese des Mittelalters« (99–165 inkl. einer bis 2006 reichenden Bibliographie zum Fegefeuer) befasst sich mit einem der ›Dauerbrenner‹ moderner ›Mittelalterskepsis‹. Im dritten Aufsatz zeigt der Vf. unter dem Titel »Von der Welt durch die Hölle zum Paradies. Eschatologisches Theater und seine mittelalterliche Herkunft« (217–224) die im Mittelalter für selbstverständlich er­achtete Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Jenseitsorte. Schließlich beziehen sich drei Aufsätze auf die mittelalterliche Visionsliteratur und verweisen damit implizit auf einen Forschungsschwerpunkt des Vf.s: »Die Verbreitung der apokryphen ›Visio Pauli‹ im mittelalterlichen Europa« (165–180), »Ekstatischer Flug und visionäre Weltschau im Mittelalter« (181–206), »Die Vision der neunjährigen Isabetta di Luigi aus Perugia (1468) als Quelle zur Geschichte der Kindheit« (207–215). – Zwei Aufsätze der vorgelegten Sammlung lassen sich keiner der durch den Rezensenten ›aufgemachten‹ Sektionen zuordnen: »Die Wiener Minoriten im ausgehenden 13. Jahrhundert nach dem Urteil der zeitgenössischen Begine Agnes Blannbekin« (225–238) und »Der Traum Kaiser Karls IV.« (239–251).

Insgesamt vermittelt der Vf. einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit der mittelalterlichen Jenseitsvorstellungen. Dabei bemüht er sich darum, einen ›Dialogfaden‹ zwischen der modernen Leserschaft und den Menschen des Mittelalters zu knüpfen. So erläutert er beispielsweise das spätmittelalterliche Christentum als eine ›Religion des Todes‹ in ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Dem Verständnis dienlich ist auch sein Bemühen um diachrone Blickrichtungen und seine Orientierung an der sog. ›Achsenzeittheorie‹; denn – um hier nur ein Beispiel herauszugreifen – »Todesfaszination« unterschied sich eben in (Spät-)Antike, Mittelalter und Neuzeit epochenspezifisch voneinander. Schließlich zeigen verschiedene der vorgelegten Aufsätze, dass im Mittelalter die Sorge um den eigenen Tod und damit um das jenseitige Gericht das irdische Leben selbstverständlich prägten: Der Armen-Seelen-Kult, die Ausrichtung am Vorbild der Heiligen, das Erschrecken vor dem ›Deus tremendus‹, die Ars moriendi, der Schutz durch Reliquien im Tod, die Gnadenhaftigkeit des Fegefeuers, die Totenerscheinungen, die ›Löschkraft‹ der Marienmilch, Jenseitsstrafen, Erlebnisse während Jenseitsflügen etc. sind hier mit dem Vf. als belegende Stichworte anzuführen.

Die Vorzüge dieses Sammelbandes werden nur durch wenige Irritationen verschattet: So bleibt der Bereich der Liturgie mit seinen Primärtexten und rituellen Manifestationen unterbelichtet, was insofern von Bedeutung ist, da wohl kaum ein anderes Feld des christlich-mittelalterlichen Alltagslebens intensiver von der Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits geprägt war. Nicht weniger skeptisch stimmen manche sehr ausladend geratene Wertungen des Vf.s: Was soll man unter einer »Christianisierung der germanischen Bevölkerung ›in die Tiefe‹« verstehen, wie sie der Vf. erst für die Zeit ab dem 12. Jh. veranschlagt? (18) Ebenso ›sperrig‹ (und unbelegt) wirkt seine Rede von der »Intensivierung der Teufels- und Jenseitsfurcht« im Hochmittelalter (21). Was ist davon zu halten, dass das Spätmittelalter zahlreiche ikonographische Maria-Schutzmantel-Darstellungen kennt, auf denen »die Mutter Jesu Gottes Willen entgegenarbeitet«, was der Vf. allerdings ohne weitere Begründung als »theologisch absurd« abtut (54); denn eigentlich wollen diese Darstellungen nichts als die interzessorische Wirkung Mariens gegenüber dem göttlichen Vater als der eigentlichen ›Letztinstanz‹ unterstreichen. Weiterhin ist zu fragen, warum der Vf. die Kombination von Partikulargericht und Weltgericht als »sinnlos« qualifiziert (69). Auch seine Rede von den »Wiedertäufern« (104) statt – so der seit Jahrzehnten etablierte theologisch korrekte Sprachgebrauc h– von Täufern (gemeint sind die Radikalreformatoren des 16. Jh.s) ist irreführend. Oder: Welcher Maßstab steht hinter der Aussage, dass die Rolle des mittelalterlichen Totengedenkens »überforscht« sei (129)?

Im Ergebnis kann der Band als orientierende Lektüre empfohlen werden. Freilich übertrifft er nicht den seinerzeit von Arnold An­gen­endt vorgelegten und bis heute religions- und sozialgeschichtlich maßstabsetzenden, allerdings leider niemals als Monographie erschienenen Standardbeitrag zur Thematik (Arnold Angenendt, Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch [Hrsg.], Me­moria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter [Münstersche Mittelalter-Schriften, 48] Münster 1984, 79–199), ja rezipiert ihn erstaunlicherweise noch nicht einmal!