Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2009

Spalte:

947–948

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Walters, Patricia

Titel/Untertitel:

The Assumed Authorial Unity of Luke and Acts. A Reassessment of the Evidence.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2009. XV, 238 S. m. Abb. 8° = Society for New Testament Studies. Monograph Series, 145. Lw. £ 55,00. ISBN 978-0-521-50974-9.

Rezensent:

Armin D. Baum

Lukasevangelium und Apostelgeschichte müssen von zwei Verfassern stammen, die in ihren Werken jeweils ihren unverwechselbaren Stil hinterlassen haben. Der seit nahezu 1900 Jahren gültige und von vielen Forschern für endgültig erklärte Konsens, dass das »lukanische Doppelwerk« von nur einem Autor stammt, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Das ist die Hauptthese, die P. Walters, Assistenzprofessorin am Rockford College in Illinois, in ihrer 2005 an der Loyola University in Chicago angenommenen Dissertation in vier klar definierten Schritten mit stilkritischen Argumenten begründet hat.

Im ersten Kapitel (1–42) werden zunächst die externe Evidenz (Irenäus, Clemens Alexandrinus, Canon Muratori, Tertullian, Origenes) und die üblicherweise angeführte interne Evidenz (zu Stil und Inhalt) vorgestellt. Anschließend referiert W. die von A. C. Clark (1933) und A. W. Argyle (1974) vorgetragenen Argumente ge­gen einen gemeinsamen Autor. Über diese Vorgänger hinaus, deren Argumente sie für unzureichend hält, entwickelt W. eine eigene dreistufige Methode: Als Textbasis für ihren Stilvergleich identifiziert sie die redaktionellen Nahtstellen und Summarien des Evangeliums und der Apostelgeschichte. Diese Texte analysiert sie an­hand einiger aus der antiken Philologie bekannter Konventionen, die bei der Abfassung von Prosatexten eine Rolle spielten. Der Stilvergleich wird schließlich mit Hilfe eines Computerprogramms statistisch ausgewertet.

In Kapitel 2 (43–89) bestimmt W. die Textbasis ihrer Untersuchung, indem sie im Anschluss an die Mehrheitsmeinung der Forschung im Evangelium 25 und in der Apostelgeschichte 19 Nahtstellen und Summarien mit einem Gesamtumfang von 642 bzw. 590 Wörtern identifiziert.

Im dritten Kapitel (90–136) werden anhand der Schriften von Aristoteles, Pseudo-Demetrius, Dionysius von Halicarnassus und Pseudo-Longinus literarische Konventionen von Prosaschriftstellern identifiziert, deren Auftauchen in den beiden Büchern des sog. lukanischen Doppelwerks miteinander verglichen werden soll. Es handelt sich um die Vermeidung von Hiatus (Vokalzusammenstoß in zwei aufeinanderfolgenden Silben) und Dissonanz bzw. Dysphonie (unschöne Konsonantenverbindungen wie Lambda und Kappa), den Prosarhythmus (Daktylus, Jambus, Pean usw.) und die Satzstruktur (Länge, Partikelgebrauch, Reihenfolge von Subjekt und Verb, Gestaltung von Satzanfang und -ende).

In Kapitel 4 (137–189) präsentiert und bewertet W. ihre stilometrischen Daten. In den Nähten und Summarien des Lukasevangeliums erscheint der Hiatus zwischen zwei langen Vokalen (58 Mal bzw. in 3,91 % aller Silben und damit) etwa zweimal so häufig wie in der Apostelgeschichte (wo er 24 Mal bzw. in 1,78 % aller Silben vorkommt). Dissonanzen zwischen Ny und Tau (innerhalb eines Wortes) kommen in den Summarien des Lukasevangeliums (20 Mal bzw. in 1,35 % aller Silben und damit) nur rund halb so häufig vor wie in der Apostelgeschichte (wo sie 37 Mal bzw. in 2,74 % der Silben anzutreffen sind). Im Lukasevangelium enden in den Summarien 38 Sätze (das sind 50,00 %) mit einem präpositionalen Element, in der Apostelgeschichte nur 23 Sätze (das sind 33,33 %). In den Summarien des Lukasevangeliums enden lediglich sieben Sätze mit einem finiten oder Hauptverb (das sind 9,21 %), in der Apostelgeschichte sind es 13 Sätze (bzw. 18,84 %). In den Summarien des Lukasevangeliums enthalten 33 Sätze (das sind 43 %) ein parataktisches »und«, während dies in den Summarien der Apostelgeschichte nur in 16 Sätzen (das sind 23 %) der Fall ist.

Im abschließenden fünften Kapitel (190–196) plädiert W. dafür, in Zukunft auch den Markusstoff des Lukasevangeliums sowie die Reden, die Wir-Stellen und die beiden Textfassungen der Apostelgeschichte der von ihr entwickelten Analysemethode zu unterziehen.
W. hat ihre statistischen Resultate mit Unterstützung des De­partments für Mathematik und Statistik an der Loyola University ermittelt und zu jedem Einzelbefund errechnet, ob er statistisch signifikant ist, d. h. wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass er auf Zufall beruht (155–160). Dabei hat sich ergeben, dass die Unterschiede zwischen der Verwendung des Hiatus und anderer Prosakonventionen im Evangelium und der Apostelgeschichte statis­tisch (hoch) signifikant sind, d. h. mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zufällig entstanden sein können.

Trotz dieser eindrücklichen Zahlen lässt W.s Argumentation einige Fragen offen. 1. Ist das Textmaterial, das W. einer stilkritischen Überprüfung unterzogen hat, nicht zu klein für statistisch relevante Aussagen? 2. Kann der Verfasser des Lukasevangeliums nicht auch die Summarien und Nahtstellen seines Werkes wenigs­tens teilweise der ihm zur Verfügung stehenden Überlieferung entnommen haben? 3. Muss die Einbeziehung der beiden Prologe den Gesamtbefund nicht verfälschen, da Lukas sich gerade im Evangelienprolog eines ganz anderen Stils bedient als im Rest seines Evangeliums? 4. Vor allem aber: Hätte W. ihre am Lukasevangelium und der Apostelgeschichte gewonnenen Ergebnisse nicht einer Gegenprobe unterziehen müssen, aus der hervorgeht, dass beispielsweise die verschiedenen Werke des Josephus keine statis­tisch signifikanten Unterschiede in der Verwendung des Hiatus, der Dissonanz usw. aufweisen? Hier scheint mir das entscheidende Defizit in W.s Argumentationskette zu liegen.

Im Schlussabschnitt ihrer Arbeit schreibt W.: »Der Glaube an die Inspiriertheit und den Offenbarungscharakter der Schrift ist weder negiert noch aufgehoben, wenn das Lukasevangelium und die Apos­telgeschichte von unterschiedlichen Autoren bzw. Herausgebern stammen« (196). Das trifft sicher zu. Den Nachweis, dass die historische Voraussetzung dieses theologischen Urteils erfüllt ist, hat W. durch die von ihr vorgelegten Daten aber noch nicht erbracht. Es besteht bis auf Weiteres kein Anlass, die Redeweise vom »lukanischen Doppelwerk« aufzugeben.