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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

945–947

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Konradt, Matthias

Titel/Untertitel:

Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XII, 493 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 215. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149331-7.

Rezensent:

Uta Poplutz

Mit dieser Monographie widmet sich der Berner Neutestamentler Matthias Konradt der kontrovers diskutierten und wirkungsgeschichtlich durchaus nicht ganz unbelasteten Frage, wie die beiden Missionsbefehle Mt 10,6 und Mt 28,19 innerhalb der theologischen Konzeption des Evangeliums zu verstehen sind. Während Mt 10,5 f. (vgl. auch Mt 15,24) eine klare Israelzentrierung des Wirkens Jesu und seiner Jünger beinhaltet, endet das Evangelium in Mt 28,18–20 mit der universalen Heilszuwendung zu allen Völkern. Wie geht man mit diesem widersprüchlichen Befund um? Stehen beide Ausrichtungen von Anfang an unvermittelt nebeneinander? Haben wir somit verschiedene Traditionsstränge vorliegen, die Eingang ins Evangelium gefunden haben, oder müssen wir mit einem Bruch im Selbstverständnis Jesu bzw. seiner Jünger rechnen, der auf einen Misserfolg in der Heimat zurückzuführen ist, welcher zur Abkehr von Israel und zur Zuwendung zu den Völkern führte?

K. schlägt einen anderen Erklärungsweg ein: Er zeigt dezidiert auf, dass beide Linien, Israelkonzentration und Völkermission, im Evangelium gezielt verknüpft werden und sich erst im Nebeneinander dieser beiden Ausrichtungen Identität und Bedeutung Jesu sukzessive enthüllen (15). Die These lautet somit, »dass die Aufeinanderfolge der beiden Missionsbefehle ein integrales Moment der narrativen Konzeption darstellt, in der Matthäus seine Christologie entfaltet« (14). Mit anderen Worten: Universalismus und Zuwendung zu Israel sind keine konkurrierenden oder sich ausschließenden Optionen, sondern werden von Anfang an miteinander vermittelt (330).

Die Studie umfasst neben einer Einleitung (1–16) und einem Resümee (393–405) sechs thematische Kapitel. Zunächst analysiert K. »Die Ausrichtung des Wirkens Jesu und seiner Jünger auf Israel« (17–94). Bereits durch die Überschrift Mt 1,1 wird die Davidssohnschaft Jesu als ein wesentliches Thema der matthäischen Jesuserzählung titularisch verdichtet, um im Stammbaum und der Magierperikope in variierender Form entfaltet zu werden (33). Jesus ist der davidisch-messianische Hirte (vgl. Mt 2,6), dessen genuine Aufgabe es ist, »die verlorenen Schafe Israels« (Mt 15,24) zu sammeln und durch sein heilendes Wirken aufzurichten. Diese Aufgabe bestimmt bei Matthäus Jesu irdisches Wirken. Auch die Sendung der Jünger in Mt 10 erfolgt unter dieser Prämisse: »Geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Mt 10,6). Heiden wie der Hauptmann von Kafarnaum (Mt 8,5–13) oder die Kanaanäerin (Mt 15,21–28) müssen erst Jesu Zurückweisung überwinden, indem sie einen Glauben zeigen, der bereits antizipiert, dass Jesu Sendung letztlich auf die Universalität des Heils zielen wird. Aus diesem Grund nennt Jesus ihren Glauben »groß«.

Unter der Kapitelüberschrift »Die Reaktionen auf Jesu Wirken in Israel« (95–180) geht K. dann den Konfliktlinien der matthäischen Jesusgeschichte nach. Der Zuspruch, den Jesu Wirken bis zur Passion etwa im Volk findet, wird dem Widerspruch, der vornehmlich von den religiösen Eliten Israels ausgeht, gegenübergestellt, wodurch sich der matthäische Plot als Konfliktgeschichte im Spannungsfeld zwischen Anhängern und Gegnern entwickelt. Dabei wird aufgezeigt, dass die Jesusgeschichte des Matthäus keineswegs auf eine kollektive Ablehnung Jesu in Israel hinausläuft. Anhand einer detaillierten Exegese von Mt 27,25 kommt K. gerade nicht zu dem Schluss, »dass sich das Gottesvolk Israel gegen seinen Messias entschieden hat«, sondern dass »dem von den Autoritäten verführten Jerusalemer Volk die Verantwortung für den Tod Jesu« zugewiesen wird (180).

Diese These wird im Kapitel »Konsequenzen negativer Reaktionen auf Jesu Wirken« (181–284) vertieft. Die Differenzierung zwischen den jüdischen Volksmengen und den Autoritäten geht geographisch mit der Gegenüberstellung von Galiläa und Jerusalem einher (181). Die Konsequenz einer solchen Unterscheidung ist, dass von einer pauschal gegen Israel gerichteten Gerichtsansage keine Rede sein kann: Die Worte »gegen dieses Geschlecht« (Mt 11,16–19; 12,38–45; 23,34–36) sind gerade durch ihre Einbindung in den Kontext der Auseinandersetzung Jesu mit den jüdischen Autoritäten nicht generalisierend zu verstehen. Auch die Parabeltrilogie (Mt 21,28–22,14) deutet K. nicht als Ablösung Israels durch die Kirche bzw. die Völker, sondern als finale Auseinandersetzung Jesu mit den ihm feindlich gesinnten Eliten. Auf derselben Linie liegt die Zerstörung Jerusalems (Mt 22,7; 23,37–39), die nicht die Verwerfung Israels repräsentiert, sondern der Delegitimation der Autoritäten dient, denn »an ihr wird ansichtig, wer auf Gottes Seite steht und wer nicht« (283).

Die Thematik »Israel und die Völker« wird in einem eigenen Kapitel (285–348) nochmals verdichtet und ergänzt. So zeigt K. auf, dass die in Mt 28,18–20 missionsprogrammatisch hervortretende Universalität des Heils nicht unvermittelt kommt, sondern durch zahlreiche Textsignale von Anfang an vorbereitet wurde. Die Verbindung von Israelzentrierung und Universalismus hat Matthäus mit der Entfaltung Jesu als »Sohn Davids« und »Sohn Gottes« verknüpft. Wendet sich der davidische Messias zunächst seinem Volk zu, werden die Völker durch den Tod des Gottessohnes für die Vielen und dessen Einsetzung zum Weltenherrscher in die Heilsverheißung mit einbezogen. Dabei liegt der Ton auch in einem Vers wie Mt 28,19 nicht auf Ablösung, sondern auf Ergänzung: Die Jünger, deren bleibende Aufgabe es seit Mt 10,6.23 ist, Israel zu restituieren, werden nun auch zur übrigen Menschheit gesandt (348).

Das Verhältnis zwischen Israel und der Kirche (349–377) be­stimmt K. in der Form näher, dass die nachösterlich gebildete ecclesia als Heilsgemeinde verstanden wird, die aus Israel und den Völkern entstanden ist und weiterhin entsteht. Matthäus etabliert die Kirche dabei als Sachwalterin der theologischen Tradition Is­raels mit universaler und missionarischer Ausrichtung. An keiner Stelle bezeichnet der Evangelist die ecclesia als (neues) Gottesvolk. Und so geht es ihm nicht um eine Substitution Israels, sondern um die Ersetzung der alten Führungsschicht – der alten »Hirten« –, durch die Kirche (360).

Basierend auf seinen bisherigen Ausführungen wagt K. eine vorsichtige Einschätzung der »Situation der matthäischen Gemeinde« (379–391). Die zu Tage tretende Vehemenz der narrativ entfalteten Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die Gemeinde zur Zeit der Abfassung des Evangeliums in einem aktuellen Konflikt mit dem pharisäischen Ge­genüber befand (379). Dieser wiederum ist im größeren Kontext des innerjüdischen Neuformierungsprozesses nach 70 n. Chr. zu verorten. Wie genau sich die Gemeinde aber zusammengesetzt hat, ist schwer zu beurteilen: Sicher ist, dass das Judentum den primären Lebenskontext der Gemeinde bildete. Aus der Beobachtung, dass sich die matthäische Gruppierung in einem Konkurrenzverhältnis zu den Pharisäern sah, lässt sich dann wohl schließen, dass sie mehrheitlich judenchristlich geprägt war (391).

K. legt eine materialreiche und sorgfältige Studie vor, die die wichtigsten Aspekte der matthäischen Jesusgeschichte behandelt und brillant zusammenzieht. Wer sich in exegetisch-theologischer Weise mit dem viel diskutierten Thema »Israel – Kirche – Völker« beschäftigen will, wird auf absehbare Zukunft an dieser Monographie nicht mehr vorbeikommen.