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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

941–943

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Eastman, Susan

Titel/Untertitel:

Recovering Paul’s Mother Tongue. Language and Theology in Galatians.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XIV, 206 S. gr.8°. Kart. US$ 25,00. ISBN 978-0-8028-3165-1.

Rezensent:

Dieter Sänger

Die zunehmende Spezialisierung in den theologischen Disziplinen hat mit dazu beigetragen, dass sie einander nur noch partiell wahrnehmen und sich zu verselbständigen drohen. Trotz ihrer vielbeschworenen Einheit schwindet das Bewusstsein, aus fachspezifisch erscheinenden Fragestellungen anderer Disziplinen Impulse für eine neue Perspektive auf Themen und Problemaspekte der eigenen gewinnen zu können. Wie lohnend es z. B. sein kann, gewöhnlich im Rahmen der Praktischen Theologie reflektierte Erfahrungen aus der pastoralen Praxis an neutestamentliche – hier paulinische – Texte zurückzubinden und auf diese Weise in den exe­getischen Diskurs einzubringen, dokumentiert die hier anzuzeigende Studie. Bei ihr handelt es sich um die überarbeitete Fassung von Eastmans Ph.D.-Thesis (Betreuer: Richard B. Hays), die 2003 der Duke University Di­vinity School vorlag. Dort lehrt E. heute als Professorin für »The Practice of Bible and Christian Formation«.

Über Anlass, Gegenstand und Ziel der Untersuchung informiert das 1. Kapitel (»The Torturer Became the Mother« [1–23]). Angeregt durch ihre langjährige Tätigkeit als Seelsorgerin geht E. anhand des Gal der Frage nach, wie die beiden Wirkaspekte des Evangeliums – seine »transforming and sustaining power« (5.56) – innerhalb der bestehenden Strukturen, in die Christen eingebunden sind, realisiert und zur Anschauung gebracht werden können. Präziser noch gefragt und auf die galatische Situation bezogen: Wie motiviert Paulus die heidenchristlichen Galater, denen er schreibt, sie seien mit Christus gekreuzigt und eine »neue Schöpfung«, an diesem Glauben auch unter den alltagsweltlichen Bedingungen festzuhalten und ihr Leben von der existenzverwandelnden Kraft des Evangeliums bestimmt sein zu lassen? Als Probe aufs Exempel dienen vor allem die Abschnitte Gal 4,12–20 und 4,21–5,1. Der Auslegung bereiten sie einige Schwierigkeiten, jeder für sich und im Ensemble. Das betrifft nicht zuletzt den affektiven Sprachgestus, der sie in besonderer Weise kennzeichnet, und seine pragmatische Funktion im makrotextuellen Gefüge. Emotional tief bewegt wirbt Paulus um die Galater. Er appelliert an ihre Freundschaft (4,15), erinnert daran, wie gastlich sie ihn aufgenommen haben (4,13 f.), und redet sie als seine Kinder an, um die er abermals Geburtsschmerzen leidet (4,19). Überhaupt verwendet er in diesem Zusam­menhang auffallend häufig bildhafte Ausdrucksformen mit der Mutter als bildspendendes Motiv (4,21 ff.). Für E. ist diese emotionale, mit »maternal imagery« (6) angefüllte Sprache kein ornamentaler Aufputz. Vielmehr reflektiert sie das paulinische Anliegen und liefert den Schlüssel zur Interpretation beider Passagen im Kontext des Galaterbriefes.

Im Anschluss an Ursula Le Guin, deren Theoriemodell zur Klassifizierung sprachlicher Äußerungen als heuristische Leitlinie dient, unterscheidet E. drei verschiedene Sprachweisen: »father tongue«, »mother tongue« und »native tongue«. Gemeint sind »different kinds of communication that serve different purposes« (7), und zwar unabhängig vom sprechenden Subjekt (Mann/Frau). Während die »father tongue« direktiv ist, von oben herabkommt, sich objektiv gibt und auf Distanz zum Hörer bedacht ist, zeichnet sich die »mother tongue« – ähnlich wie die unverstellte »native tongue« der Kinder – durch das genaue Gegenteil aus. Sie ist nicht bloß Kommunikation, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes Konversation. Sie verbindet, stärkt oder schafft Beziehungen, ist auf Reziprozität angelegt, voller Empathie und von persönlichen Er­fahrungen geprägt, in denen sich der Dialogpartner wiederfindet.
Diese sprachhermeneutischen Überlegungen zum referentiellen Charakter und zur Pragmatik der als »mother tongue« identifizierten metaphorischen Sprache stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen E. sich bewegt und argumentiert. Neben den beiden Textstücken 4,12–20 (»›Become Like Me!‹ Mimetic Transformations« [25–61]) und 4,21–5,1 (»Children of the Free Women« [127–160]) werden noch speziell 4,19 (»Galatians 4:19: A Labor of Divine Love« [89–126]) sowie die Stellen, in denen Paulus sein prophetisches Selbstverständnis artikuliert (»Paul among the Prophets« [63–88]) und der ethisch-paränetische Abschnitt 5,13–6,10 (»Two ›Family Trees‹: The Opposition between the Flesh and the Spirit« [161–179]) unter dem übergreifenden Aspekt ihrer kommunikativen Funktion einer eingehenden Analyse unterzogen. Das letzte Kapitel (»Paul’s Mother Tongue and the Staying Power of the Gospel« [181–194]) bilanziert den Ertrag der Studie und endet mit Erwägungen zur theologischen Bedeutung und Leistungsfähigkeit von Paulus’ »maternal metaphors« (18 f.192).
Ihre zweigeteilte These, die E. sukzessive entfaltet und im Re­kurs auf die übrigen Paulinen abzusichern sucht, lässt sich auf das Wesentliche konzentriert so zusammenfassen:

1) Gal 4,20–5,1 ist von der Absicht geleitet, den wankelmütig gewordenen Galatern die nötige Motivation und Kraft zu vermitteln, im Glauben an Christus festzustehen (vgl. 5,1: στήκετε) und sich allein an ihm als dem Real- und Ermöglichungsgrund ihrer ekklesialen Einheit auszurichten.

2) Botschaft und Medium sind nicht zu trennen. Paulus ist sich dessen bewusst. Seine metaphorisch kodierte Sprache, die mit Bildern aus dem familiären Bereich durchsetzt ist (Vater, Mutter, Kinder, Geschwister), in die er sich selbst, sein eigenes Geschick, seine Erfahrungen mit und sein Beziehungsverhältnis zu den Hörern einschreibt, wird für den Inhalt des Evangeliums transparent und bringt ihn zur Anschauung. Diese Demonstration wirkt in doppelter Hinsicht motivierend. Sie bezieht die Galater erneut in die durch »personal and cosmic dimensions« (57) gekennzeichnete »re­la­tional matrix involving Christ, Paul, and (themselves)« (189) ein, die ihrerseits wiederum »mediates the transforming and durative power of the gospel« (88). Mit anderen Worten, der als »mother tongue« charakterisierte Sprachgestus des Apostels zielt darauf ab, die galatischen Gemeinden ihrer Identität als Ekklesia zu versichern, sie davor zu bewahren, sich aus der gemeinsamen Geschichte mit Christus und Paulus zu verabschieden, und sie zu bewegen, ihre in dieser Geschichte gründende gegenwärtige und zukünftige Freiheit »from the law and the stoicheia« (158) nicht durch den Rück­fall »into slavery of the law« (132) zu verspielen.

Auf der Basis ihres methodischen Ansatzes bietet E. eine weithin überzeugende und in sich stimmige Interpretation der untersuchten Texte. Immer wieder gelingt es ihr, ihnen neue Facetten abzugewinnen, ohne dabei einem Methodenmonismus zu frönen. Dass ihr spezifischer Sprachmodus – die »mother tongue« – rezeptionssteuernde Funktion hat und ein Integral des metaphorisch kommunizierten Wirklichkeitsverständnisses bildet, das sich dem vormaligen Pharisäer und den Galatern »in Christus« erschlossen und ihr bisheriges Miteinander bestimmt hat, dürfte deutlich geworden sein. Ebenso, dass die besonders in der anglo-amerikanischen Forschung diskutierte Alternative, ob Paulus’ Verhältnis zu seinen Gemeinden durch ein Autoritäts- oder Machtgefälle geprägt ist, wenig sinnvoll erscheint. Sie ist in der »maternal language« des Apostels aufgehoben, weil das – durchaus vorhandene – autoritativ-direktionale Moment eingelagert ist in das christologisch fundierte familiäre Beziehungsgefüge im Binnenraum der Ekklesia. Über einzelne exegetische Entscheidungen kann man natürlich wie so oft streiten. Einiges hängt für E. davon ab, ob 5,1 noch zu 4,(12–20)21–31 gehört oder, wie viele Ausleger meinen, in Anknüpfung an die affirmative Aussage von 4,31 einen neuen Argumentationsgang einleitet. Die nicht weiter problematisierte Option zu Gunsten der ersten Alternative verdiente angesichts der kontrovers beurteilten Textsegmentierung und der aus ihr sich ergebenden in­terpretatorischen Konsequenzen eine nähere Be­gründung (vgl. 131–133), zumal E. selbst eine gewisse Unentschlossenheit erkennen lässt (vgl. 113 mit 136.164.175.189). Auch fällt auf, dass mit Ausnahme von 1,15 f. und 3,13 f. die ersten drei Kapitel des Gal recht stiefmütterlich behandelt werden, so, als ob sie zum Thema nichts beizutragen hätten. Träfe dies zu, müsste erklärt werden, warum in ihnen Paulus’ »mother tongue« nur punktuell erklingt. Vor allem aber: Man wüsste gerne, wie E. die Erfolgsaussichten des mit erheblichem sprachlichem Aufwand betriebenen Versuchs einschätzt, die Galater zu motivieren, an dem vom Apos­tel verkündigten Christusevangelium festzuhalten. Wenngleich eine Antwort notwendig hypothetisch bleibt, setzt E. sich durch ihren Verzicht auf diese Frage ungewollt dem Verdacht aus, der medial vermittelten »durative force« (3) und »staying power of the gospel« (11) nicht allzu viel zuzutrauen.

Das Buch hat ein Sach- und Stellenregister. Ein Literaturverzeichnis fehlt.