Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2009

Spalte:

929–931

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Tilman

Titel/Untertitel:

Mohammed. Leben und Legende.

Verlag:

München: Ol­denbourg 2008. 1052 S. gr.8°. Lw. EUR 178,00. ISBN 978-3-486-58534-6.

Rezensent:

Hans Zirker

Das umfangreiche Geschichtswerk ist eine gewaltige wissenschaftliche Leistung. In seiner detaillierten Auswertung der zahlreichen frühen arabisch-islamischen Zeugnisse überragt es alle übrigen Bemühungen um eine Biographie Mohammeds. Mit Weitblick und sicherem Zugriff erzählt es die prophetische Lebensgeschichte, ein­gebettet in die kulturelle, politische und religiöse Situation ihrer Zeit, beeinflusst von unterschiedlichen geistigen Strömungen, Ausgangspunkt einer die Machtkonstellationen der Welt grundlegend verändernden Gemeinschaft und Bewegung. Diese sinnfällige Darstellung mit ihrer Fülle von Akteuren, Ereignissträngen und Episoden ist umso erstaunlicher, als N. selbst einräumt, dass »der wissenschaftliche Konsens über die Frage, ob und falls ja, wie das Abfassen einer Biographie Mohammeds möglich sei, … seit langem zerbrochen ist« (835). Somit setzt sich sein Unterfangen nicht nur von »der schwärmerischen Nacherzählung der muslimischen hagiographisch überformten Überlieferung« ab (ebd.), sondern vor allem auch von den kritischen Abhandlungen, die die Mitteilungen über Mohammed und die Ereignisse um ihn derart fraglich werden lassen, dass auf das umfangreiche Quellenmaterial anscheinend nur noch »nach subjektiven Vorentscheidungen des einzelnen Forschers« zurückgegriffen werden kann (838).

Mit gutem Grund betont N. den extrem kritischen Ansätzen gegenüber, dass es äußerst unwahrscheinlich sei, eine Gruppe von Menschen habe die vielstimmigen Bezeugungen einer prall gefüllten Vergangenheit von etwa 150 Jahren einfach »zusammenfabuliert« (839). Zwar habe man den Überlieferungen schon früh einen »Schleier des Ungeschichtlichen übergeworfen«, doch heutige Forschung könne sich nicht darauf beschränken, resignativ »nichts weiter als die unentwegte Beschreibung dieses Schleiers« zu betreiben, man müsse vielmehr »durch jenen Schleier hindurchsehen wollen« (842).

Die dieser Rezension auferlegten Grenzen verwehren es, das beachtliche Werk in historischen und philologischen Details zu diskutieren. Dies steht aber auch nicht als Erstes an. Vorrangig zu bedenken ist die von N. postulierte »Hermeneutik«, die aus den »Irrungen und Wirrungen der letzten Jahrzehnte« hinausführen soll, indem sie sich den »gesamten Komplex« um Mohammed und die Entstehung des Islam vornimmt und eine »Gesamtdeutung« (843) anzielt, »ein plausibles Ganzes« (841). Unbezweifelbar ist zum einen, dass hier ein »Ganzes« auf beeindruckende Weise gelungen ist, und zum andern, dass das Ergebnis »natürlich mit dem Risiko des Irrtums behaftet« bleibt (842). Zu fragen ist aber, ob man auf diesem Weg von den »subjektiven Vorentscheidungen« loskommt, allein auf »nüchterne Bestandsaufnahme und Analyse des Überlieferten« bauend (912). Plausibilität ergibt sich aus der konstruktiven Darbietung einer Sache, und plausibel ist die Sache immer für jemanden – oder auch nicht.

Das damit gegebene Problem kündigt sich schon im einleitenden »Hinweis für den Leser« an, wo N. lapidar feststellt: »Die Forschung muß sich an das halten, was als gesichert gelten kann, nämlich daß die Worte des Koran von Mohammed ausgingen« (17). Der Leser mag dem zustimmen, doch »die« Wissenschaft schlechthin tut dies, wenigstens derzeit, nicht. Der entschiedene Duktus des Satzes überspielt die strittige Sachlage.
Aber auch schon die Wahl der Begriffe ist folgenreich. Die Sprache ist kein neutrales Instrument. Wenn im Blick auf den Glauben Mohammeds und der Muslime durchweg von »Allah« die Rede ist, gelegentlich gar mit Artikel oder Demonstrativpronomen (»dem einen Allah«; »diesem Allah«), »Gott« also konsequent vermieden wird, ist dies ein hartnäckiges Signal der Distanz. Der Zusammenhang mit »der in Arabien eindringenden hochreligiösen Gedankenwelt« (117), mit den an »Gott« glaubenden, zu »Gott« betenden Juden und Christen, wird so begrifflich aufgelöst. Dies entspricht zwar der sprachlichen Gewohnheit oder auch der religiösen Verpflichtung vieler traditionell orientierter Muslime, ist aber religionswissenschaftlich und theologisch fragwürdig. Die gegebenen Differenzen lassen sich ohne die arabische Sondervokabel sachlicher darlegen.

Inhaltlich macht N. den in der Gottesbenennung angezeigten Gegensatz vor allem daran fest, dass sich der Koran und mit ihm die Muslime auf den »alles bestimmenden Allah« (932) beziehen, also »einem rigiden Determinismus« anhängen (87), während es für Christen doch nicht so sei, »daß Gottes Hineinwirken in seine Schöpfung alles, also auch das Böse, umschlösse« (129). Aber dieser scharfen Abgrenzung stehen einerseits biblische Aussagen (vgl. Jes 45,7 und Röm 9,14–23) und die Prädestinationslehre von Augustinus und Calvin entgegen wie andererseits die mahnenden Aufrufe des Koran zum rechten Handeln. Auch wenn die Akzente in den jeweiligen religiösen Mentalitäten und theologischen Rationalisierungen unterschiedlich gesetzt sind, so werden doch allen monotheistischen Religionen in dieser Hinsicht die grundsätzlich gleichen, theoretisch nicht auflösbaren, pragmatisch trotzdem sinnvollen Spannungen zugemutet.

In das Zentrum des islamischen Glaubens trifft N.s Rekonstruktion von Mohammeds Berufung und prophetischem Selbstverständnis. Da ein Historiker unter seinen methodischen Voraussetzungen nicht von Gott als einem realen Akteur ausgehen kann, die ihm vorgegebenen Texte dies aber mit großem Ernst tun, ergibt sich für ihn eine sprachliche und interpretative Schwierigkeit: Wie soll er »Gott« so besprechen, dass seine wissenschaftliche Distanz gewahrt bleibt, und wie die wirkmächtige Gegenwart dieses besonderen Akteurs in der textlich vermittelten Welt deuten (oder wie sich jeder Deutung enthalten)? In psychoanalytischer Metaphorik versteht N. Mohammeds Verkündigung als »Ausdruck seiner Zwie­sprache mit seinem Alter ego, und in dieser Zwiesprache spiegeln sich die von ihm aus seiner Umgebung aufgenommenen Einsichten wider, … seine politischen Ambitionen und sein banaler Alltag« (913). Dieses »Alter ego« legt dem Propheten »die ihm zusagenden Anordnungen in den Mund« (180), und Mohammed seinerseits »verstand es bald …, günstigen Inhalt zu empfangen« (146), schließlich wusste er sein Alter ego »virtuoser als zuvor zur Geltung zu bringen« (736).

Assoziativ angereichert wird diese Deutung durch häufige Verweise auf Mohammeds pathologische Symptome: »das Leiden«, »die Pein« (89 f.). Zwar gibt sich N. gegenüber früherer, gar zu genauer »Ferndiagnose« reserviert (911), stimmt aber im Ansatz mit ihr überein: Die religiösen Zeugnisse sind darauf bedacht, »diesem Leiden einen positiven Inhalt zu geben« (110); »das Krankhafte wird zu einem Vorzeichen verharmlost« (89). Es läge jedoch auch ein anderes Verständnis nahe: Schon die Mohammed zugeschriebenen Symptome selbst (auch »die erste ihn zu Boden reißende Audition« in jungen Jahren, 81) könnten religiös motivierte Fiktionen sein, Kennzeichnungen der von Gott her überwältigten Existenz. Wer hier die geschichtliche Realität auszumachen beansprucht, suggeriert mehr Durchblick, als die Quellen gewähren.

Ausdrücklich spricht N. der Geschichtswissenschaft angesichts des Islam hohe aktuelle Bedeutung zu. Auch wenn es dem Historiker nicht zukommt, politische und gesellschaftliche Probleme zu lösen, so sei es doch seine Aufgabe, den Weg dafür zu ebnen. Nur »wenn man an das ganze überlieferte Reden und Handeln Mohammeds einen allgemeingültigen, nicht vom Interesse des Islams und seiner Bekenner verformten Maßstab anlegt«, könne man »den Islam mit einer aus vielen Kulturen bestehenden Welt vereinbar machen« (912). Freilich wird nicht ersichtlich, wer diese religionsgeschichtliche und weltpolitische Sozialisierungsmaßnahme leis­ten soll. »Die erdrückende Mehrheit der Muslime« erscheint hier gerade als das Problem, und das letzte Kapitel des Buchs endet mit dem rundum generalisierenden Satz, »daß es seinen [Mohammeds] Anhängern schlecht ansteht, sich bei allem und jedem unter seine Autorität zu flüchten« (737).

Die Belege für solche Sichtweisen und Tonlagen ließen sich leicht vermehren. Es wäre bedauerlich, wenn manche Leser das Werk vorwiegend unter deren Eindruck beurteilen wollten. Wer die subjektiven Tendenzen N.s gelassen zu relativieren weiß, wird auch den Reichtum an Kenntnissen und Einsichten, den diese Mohammed-Biographie bietet, zu schätzen wissen.

Formal ist der immense Stoff hilfreich aufbereitet: durch ein zweites »detailliertes Inhaltsverzeichnis«, an den Seitenrändern notierte Stichwörter, einen Anmerkungsteil von 94 Seiten und einen Anhang mit einer »Einführung in den Gegenstand«, erläuternden »Zusätzen« von über 100 Seiten, genealogischen Tafeln, Landkarten, einer Zeittafel, verschiedenen Registern und einem Literaturverzeichnis.