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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

927–929

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Judge, E. A.

Titel/Untertitel:

The First Christians in the Roman World. Augus­tan and New Testament Essays. Ed. by J. R. Harrison.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIX, 786 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 229. Lw. EUR 149,00. ISBN 978-3-16-149310-2.

Rezensent:

Stefan Krauter

Die wissenschaftliche Exegese hat sich neben der Erforschung der antik-jüdischen und griechisch-hellenistischen Welt zunehmend der Frage nach dem spezifisch römischen Kontext der neutestamentlichen Schriften zugewandt: Die kultische Verehrung der Principes, das soziale Netzwerk von Patron-Klient-Beziehungen und die Ideologie des augusteischen Friedens seien als Stichworte genannt, um das weite Feld lohnender Forschungsgegenstände anzudeuten. Mit dem zu besprechenden Band (und dem Schwes­terwerk Social Distinctiveness of the Christians in the First Century, hrsg. v. D. M. Scholer, Peabody 2008) werden teilweise bislang etwas schwer zugängliche Beiträge zu diesem Themenfeld, die zu einer Zeit, als der Mainstream der (deutschen) Exegeten ihm noch kaum Interesse entgegenbrachte, von einem ausgewiesenen althis­torischen Fachmann verfasst wurden, an prominenter Stelle wie­derabgedruckt. Ein dritter, vor allem für die Kirchengeschichte relevanter Band über das Christentum in der Spätantike soll hinzutreten (What Jerusalem Had to Do With Athens. Cultural Transformation in Late Antiquity, hrsg. v. A. M. Nobbs).

Der erste, mit 18 Kapiteln umfangreichste Abschnitt versammelt unter dem Thema »Augustus in his Times« im engeren Sinne althistorische Beiträge, die um die Frage kreisen, wie die Verän­derungen in der römischen Politik unter Caesar und Augustus sachgerecht verstanden werden können. Hervorzuheben sind insbesondere die Übersetzung der »res gestae divi Augusti« mit ausführlichem Kommentar (182–223) und die Auseinandersetzung mit R. Symes grundlegenden Thesen in »The Roman Revolution« und »The Augustan Aristocracy« (314–345). Gerade für Exegeten ist die Lektüre lohnend, weil sie exemplarisch klarmacht, wie wenig mit pauschalen Aussagen über »das römische Kaiserreich« getan ist, gilt es doch, eine Fülle von verschiedenartigsten Quellen und eine anspruchsvolle wissenschaftliche Debatte innerhalb der Alten Geschichte zu rezipieren, bevor man Schlüsse auf das Neue Testament ziehen kann. Zudem steht J.s Deutung des frühen Prinzipats in anregender und produktiver Weise quer zum heute in der Exegese weitverbreiteten Bild Roms als imperialer Macht unter einem ideologisch als Gott überhöhten Alleinherrscher. Bei manchen der kürzeren Beiträge, die wenig mehr sind als thesenhafte Zusam­menfassungen des in den anderen Aufsätzen ausführlich an Quellen Dargelegten, sei freilich die Frage erlaubt, ob eine etwas strengere editorische Auswahl nicht vorteilhaft gewesen wäre.

Die Beiträge zum Neuen Testament gliedern sich in drei große Abschnitte. »The Roman Empire and the First Christians« umfasst 14 sehr unterschiedliche Aufsätze: Die Klärung von Realien anhand epigraphischer und papyrologischer Quellen, die Auffassung der griechischen Bewohner des römischen Reiches vom Princeps und umgekehrt die Einstellung der Römer zu den Juden (und Christen) seien als kleine Auswahl der vielen Themen genannt. J.s Beiträge bestechen, auch wenn man ihm nicht in allen Punkten zustimmt, stets durch reiche Kenntnis der Antike wie des Neuen Testaments und scharfsinnige Argumentation. Kapitel 31 »The Origin of the Church at Rome: A New Solution?« bringt etwa eine ganze Reihe äußerst bedenkenswerter Einwände gegen das heutzutage in der Paulusexegese beinahe schon als historisches Faktum angesehene, maßgeblich auf W. Wiefel zurückgehende Bild des frühesten Chris­tentums in Rom und seiner Beziehung zu den stadtrömischen Juden.

»Social Innovation in the Early Churches« versammelt sieben so­zialgeschichtliche Studien, darunter den längsten Beitrag des Bu­ches, bemerkenswerterweise in der deutschen Fassung abgedruckt: »Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft: Die Sozialstruktur christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert« (464–525). J. erscheint hier als Wegbereiter des sog. »new consensus« über die Schichtzugehörigkeit der frühen Christen (vgl. insbesondere die späteren Arbeiten von G. Theißen), der jüngst durch J. J. Meggitt und S. J. Friesen in Frage gestellt wurde. Auch weitere, noch immer für die Forschung aktuelle Themen wie die Vergleichbarkeit der frühen Gemeinden mit (Kult-)Vereinen (J. hält sie nicht für gegeben), das Verhältnis des Christentums zur sozialen Basisgröße der Hausgemeinschaft und das Verhältnis zur politischen Herrschaft werden behandelt. Das Fehlen des heute in solchen Studien üblichen soziologischen Theorieapparats (oder im schlechten Falle: des solche Theorien vortäuschenden Jargons) fällt auf und wirft an manchen Stellen auch Fragen auf. Ebenfalls ein Fragezeichen wird man hinter den positivistischen Umgang mit Quellen ma­chen und vor allem hinter die Heranziehung von Apostelgeschichte und Deuteropaulinen als authentischen Quellen für Paulus. Dennoch liest man alle diese Beiträge trotz ihres Alters von teilweise über 40 Jahren mit Gewinn. Im engeren Sinne ekklesiolo­gische Studien, insbesondere zur Kirche als Leib Christi bei Paulus, zeigen J. nicht nur als Fachmann auf dem Gebiet der antiken Geis­tesgeschichte, sondern auch als engagierten Laientheologen.

Der vierte und letzte Abschnitt »The First Christians and the Transformation of Culture« bietet fünf Aufsätze, die sich mit der auch schon im dritten Abschnitt immer wieder anklingenden Frage befassen, inwieweit das Christentum trotz aller Kontinuität der antiken Kultur einen Gegenimpuls setzte und damit zu einem mentalitätsgeschichtlichen Wandel beitrug. J. zeigt auf, dass insbesondere die paulinische Idee der Demut und die Gründung von ekklesiai als Kontrastgemeinden, ja als Alternativbürgerschaften, mit dem antiken System sozialer Verpflichtungen konfligierten. Er zeigt freilich auch auf, wie groß die Kontinuität ist und wo seines Erachtens die Grenze des Konflikts liegt (anders als manche heutige Exegeten deutet er ihn dezidiert nicht als bewussten politischen Widerstand). Der letzte Beitrag zieht die Linie bis zur (Post-)Moderne aus, die noch immer vom in sich spannungsreichen antik-christlichen Erbe geprägt ist, selbst da, wo sie dessen christliche Komponente negiert.

Die zeitliche Spannweite der gesammelten Aufsätze liegt zwischen 1959 und 2006. Darum ist es außerordentlich zu begrüßen, dass der Herausgeber in einer ausführlichen Einleitung nicht nur J. als Forscherpersönlichkeit eindrucksvoll vor Augen stellt, sondern auch die Beiträge in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext einordnet und gegebenenfalls auf neuere Entwicklungen hinweist.

Der Nachweis der Orte der Erstveröffentlichung aller in den eingangs genannten drei Büchern wieder abgedruckten Aufsätze und mehrere Indizes erschließen hilfreich den Band. Ihm ist eine breite Rezeption in der Forschung zum Neuen Testament, zur Alten Kirche und zur Religionsgeschichte der Antike zu wünschen.