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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1123–1125

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Raguse, Hartmut

Titel/Untertitel:

Der Raum des Textes. Elemente einer transdisziplinären theologischen Hermeneutik

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1994. 285 S. gr.8°. Kart. DM 49,80. ISBN 3-17-013181-8

Rezensent:

Wilfried Engemann

Mit seinen Überlegungen zum "Raum des Textes" faßt Raguse einen hermeneutischen Erschließungsort ins Auge, von dessen Struktur er erwartet, daß sie für literaturwissenschaftliche, psychoanalytische und theologisch-exegetische Interpretationsprozesse gleichermaßen relevant sei. Zu den elementaren Konstitutiva dieses Erschließungsortes gehören: ein historischer Urheber (bezogen auf die o.g. Reflexionsgebiete ­ z. B. ein moderner Schriftsteller, ein Analysand, ein apokalyptischer Visionär), ein von ihm hervorgebrachter Text (z. B. ein Roman, die Geschichte eines Traums, die Johannesapokalypse), der, mehrere Ebenen einschließend, bald darstellt, bald erzählt, bald seherisch zitiert. Dieser Text wiederum sieht einen Interpreten vor, der sowohl dem Dargestellten intellektuell folgen als auch der erzählten Geschichte lauschen und sich gegebenenfalls in eine fiktive Welt "entrücken" zu lassen vermag. Wer an einen Text herantritt, tut dies zwar zunächst im Rahmen eines eigenen Interpretationsrepertoires und eines bestimmten Vorwissens, das wiederum ein bestimmtes Textverständnis bedingt; durch den im Akt produktiver Lektüre sich bildenden Interpretationsraum zwischen Text und Leser können jedoch die Lektüre-Codes umstrukturiert und erweitert werden, was schließlich zu einem geänderten, vertieften, neuen, unerwartet konkreten Textverständnis führen kann. In jedem Fall wird der gelesene, gehörte bzw. anhand von Zeichen oder Symbolen wahrgenommene Text in einem Raum "realisiert", in welchem der Leser bestimmten ihm zugedachten Rollen folgt (oder sie verweigert), in einem Interpretationsraum also, für den Text und Leser gleichermaßen konstitutiv sind. Dabei wird unterstellt, daß der einen Text erschließende Verstehensprozeß nicht als einlinige Informationsübertragung von einem Sender (Autor) zu einem Empfänger (Leser) aufgefaßt werden kann, sondern als ein Öffnen von Textwelten, in denen mehr sichtbar wird, als der Urheber des Textes diesem an Bedeutungen beilegen konnte.

Dieser Prozeß menschlichen Verstehens wird im Kontext verschiedener Theorieansätze seit langem diskutiert; seine Prämissen, die Möglichkeiten seiner Analysen und die sich dabei nahelegenden Konsequenzen sind (auch in der Theologie) nicht unbekannt. Selbst die Auffassung vom Text, der "im freien Raum die Lücke zwischen Sender und Empfänger schließt [und] seinen eigenen Produktionsprozeß porträtiert", kursiert in der Literaturwissenschaft spätestens seit Ende der 70er Jahre (vgl. z. B. Umberto Eco, Die Rolle des Lesers, zuletzt in: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, 1990, 190-245, 243). Neu und außerordentlich anregend ist aber der Versuch einer konsequent interdisziplinären Verschränkung literaturwissenschaftlicher, psychoanalytischer, semiotischer, ästhetischer (u.a.) und schließlich theologischer Interpretationskategorien, mit dem Ziel, "Elemente einer transdisziplinären theologischen Hermeneutik" zu gewinnen und dabei einer Versäulung der genannten hermeneutischen Reflexionsperspektiven entgegenzuwirken. Wie ist dieser Versuch gelungen?

Bereits ein Blick auf die Überschriften der Kapitel und Abschnitte macht deutlich, daß das vorliegende Werk in starkem Maße (vgl. bes. die Kapitel 5-16) referiert. Mehr als 20 Mal erscheinen Autorennamen im Titel bzw. bilden ihn. Dabei werden zunächst eine Fülle von Theorieelementen von R. Barth, W. Iser, J. Austin, J. Derrida, D. Winnicott, M. Klein, Th. Ogden, A. Lorenzer, J. Scharfenberg u. v. a. zumindest im Ansatz präsentiert, Entwürfe, die nach Ansicht des Vf.s deshalb zusammengehören, weil sie sich gleichermaßen auf das Verstehen von Texten (im umfassenden Sinn) anwenden lassen. Wenngleich dabei viel Geläufiges (etwa die in der Literaturwissenschaft etablierten Signifizierungen von Textebenen und Leserrollen) unterbreitet wird, gelingt es dem Vf. durch (manchmal recht lockere) Verknüpfungen bestimmter Elemente des einen Ansatzes mit denen eines anderen ­ etwa der fiktionalen Aspekte des Lesens nach Weimar (104 f.) mit der fiktiven Rolle des Analysanden unter Bezugnahme auf Leo Stone (106 f.) ­ zu neuem, vertieftem Verständnis anzuregen.

Die Akzentuierung und Durchdringung des in diesem Buch verhandelten Stoffes läßt freilich vermuten, daß der Vf. mit seiner "transdisziplinären theologischen Hermeneutik" nolens volens eine eher psychoanalytisch motivierte (Bibel-)Textauslegung figuriert hat. Davon zeugt nicht nur das massive Ungleichgewicht bezüglich der Einbeziehung eines breiten Spektrums psychoanalytischer und exegetisch-theologischer Literatur einerseits und eines vergleichsweise kargen Rückgriffs auf hermeneutische Schriften andererseits (vom insgesamt größeren Umfang psychoanalytisch argumentierender Abschnitte gegenüber anderen ganz zu schweigen), sondern auch an der Dichte und Genauigkeit bzw. Spärlichkeit und Vagheit der jeweiligen Anmerkungen sowie an der Argumentation der Schlußkapitel 17-19, die mit einer Interpretation von Röm 7 exemplarisch den Ertrag des zuvor Reflektierten aufzeigen sollen. Hier werden ­ durchaus gekonnt ­ alle Register psychoanalytischer Schriftauslegung gezogen; man könnte meinen, der weite und bisweilen komplizierte Anmarschweg habe vor allem die Funktion, diese ohne Zweifel aufschlußreiche Perspektive zu legitimieren.

Im Unterschied zu den immer zuverlässigen Informationen und souveränen Argumenten im psychoanalytischen und exegetischem Bereich unterlaufen in anderen Punkten gelegentlich mißverständliche Auskünfte. Das betrifft beispielsweise den häufigen Rekurs auf Peirce ­ der im übrigen erst nach fast einem Dutzend Verweisungen mit einer Literaturangabe bedacht wird (vgl. 213). Wenn R. wiederholt den Peirceschen Begriff des Interpretanten definitiv mit der Subjektivität des Interpreten verkoppelt (z.B. 216), um ihn vom Signifikat als Bestandteil "einer technischen Kommunikationssituation" (92) abzugrenzen, sind ihm vielleicht die Funktionsverhältnisse bestimmter semiotischer Ansätze nicht hinreichend gegenwärtig, bei denen durchaus auch Signifikate "aktiv" erschlossen und ­ wie beim Begriff des Interpretanten ­ ihrerseits zum Signifikanten werden können. Bei Peirce kommt freilich als eigner Akzent der Aspekt der faktischen Unabschließbarkeit dieser Kette von Verweisungen hinzu. ­ Mitunter wird vage zitiert: Das Platon-Zitat z. B. (34, Anm.10) steht in der angegebenen "Rufener-Übersetzung" so nicht.

R.s Darlegungen lassen den Gewinn interdisziplinärer Argumentation im Hinblick auf das Verstehen von Texten zwar erkennen und "verbuchen" ihn auch; sie regen außerdem zu einer erfolgversprechenden Ablösung einer auf historisch-kritische Fragen reduzierten Textinterpretation an. Die oben angedeutete Versäulung wird aber noch nicht überwunden. Dazu wäre es weniger erforderlich, einzelne Ansätze aufzulisten, in deren Rahmen sich Korrespondenzen hermeneutisch affizierten Argumentierens aufzeigen lassen (immerhin verdeutlicht R. überzeugend, daß es diese Korrespondenzen gibt); sondern die unterschiedlichen perspektivischen Annäherungen bedürften m.E. einer profilierteren, eventuell hermeneutisch zentrierten Ausgangsbasis, die die Erarbeitung "transdisziplinärer" hermeneutischer Elemente erst ermöglicht. Hierbei könnte man auf Vorarbeiten zurückgreifen, wie sie ­ pars pro toto ­ in dem Standardwerk Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze, Anregungen, Aufgaben, hrsg. v. D. Zilleßen u.a. (1991), z.T. zu finden sind.

Was die Lektüre des Buches erleichtert, ist sein recht lebendiger, in bewußter Anlehnung an S. Freud (vgl. 26) gewählter Vorlesungsstil; zwei Komponenten erschweren das Lesen bzw. strapazieren die Lesewilligkeit: Zum einen wird man allzu häufig mit gewichtigen thematischen Impulsen anderer Autoren konfrontiert, ohne daß dem interessierten Leser in einer Fußnote Fundstellen gezeigt, geschweige denn eine Quelle präsentiert wird. Um im oben eingeführten Beispiel zu bleiben: Man wird auf S. 91 mit dem Begriff des "finalen Interpretanten" (Peirce) konfrontiert; eine vielversprechende Fußnote verrät aber lediglich (was man sich ohnehin denken muß): "Peirce unterscheidet mehrere Interpretanten." Bei Vorlesungen mag das angehen; in einem Buch mit einem Programm wie diesem eigentlich nicht. Zum anderen sollte für eine wünschenswerte zweite Auflage bedacht werden, ob nicht die unausgesetze Verwendung des "Ich" ­ zumal gehäuft am Satzanfang und vor allem, wenn die Grenze zwischen Eigenem und Referiertem zu verwischen droht (vgl. wiederum 91 unter 6.3. zum "second self") ­ um größerer Klarheit willen etwas zurückgenommen werden könnte.