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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

870–872

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter u. Oberdorfer, Bernd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 291 S. 8° = Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten, 25. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-579-05780-4.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Der von dem Göttinger Kirchenhistoriker P. Gemeinhardt und dem Augsburger Systematiker B. Oberdorfer herausgegebene, in der Reihe des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes erschienene Band umfasst die Vorträge einer Tagung, die im Ok­tober 2006 an der Universität in Jena stattfand; zwei Aufsätze kamen hinzu. Neben vier Kirchenhistorikern und sieben Systematikern hat auch der Jenaer Neutestamentler K.-W. Niebuhr einen Beitrag verfasst. Thematisch geht es um »ein besseres Verständnis der … Dialektik von Traditionsbindung und Traditionskritik in ihrer Bedeutung für Geschichte und Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus« (11).
In ihrer Einführung weisen die Herausgeber darauf hin, dass »evangelische Freiheit« niemals »einfach negativ die Ablösung von Bindungen« bedeutete, sondern vielmehr positiv »die Etablierung neuer Formen der Begründung und Vergewisserung von Verbindlichkeit« einschloss (7). In der Geschichte des Luthertums habe es im Wesentlichen drei Varianten des dialektischen Verhältnisses von Traditionsgeltung und -kritik gegeben: 1. die (konservative) Beharrung auf der Traditionstreue; 2. die (liberale) Kritik der Bekenntnisschriften im Namen der Schrift bzw. – seit deren eigener historisch-kritischen Relativierung – »im Namen der Botschaft Jesu« oder »eines ›protestantischen Prinzips‹«; 3. eine (vermittelnde) »Traditionstreue im Namen der Freiheit«: Weil »die Bekenntnisschriften ein selbstrelativierendes Prinzip enthalten«, würden Versuche, deren »Geltung kritisch einzuschränken bzw. die normativen Texte konstruktiv fortzuschreiben«, die Freiheit und die Funktion der Schrift als mögliches Korrektiv, als norma normans, gefährden (9 f.). Angesichts der von der EKD bzw. deren Ratsvorsitzendem propagierten Stichworte »Kirche der Freiheit« und »Ökumene der Profile« ist es die Absicht des Buches, durch »Orientierung über die Quellen der eigenen [lutherischen] Lehrbildung … einer künftigen Positionierung im ökumenischen Dialog« vorzuarbeiten (12) – eine Intention, die vor dem Hintergrund der bekenntnis- und lehrmäßigen Diffusionserscheinungen im deutschen Protestantismus nur zu loben ist.
Drei Beiträge beschäftigen sich mit der Wittenberger Reformation (V. Leppin: Luther; P. Gemeinhardt: Melanchthon; F. Nüssel: Konkordienbuch), drei mit dem neuzeitlichen Luthertum (Chr. Voigt-Goy: Aufklärung; B. Oberdorfer: »Traditionsverzehrung« als Folge der reformatorischen Ekklesiologie?; U. Kühn: Gegenwartsbedeutung des lutherischen Bekenntnisses), vier mit dem Verhältnis von Schriftprinzip und Bekenntnisbildung bzw. von Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition (A. Lexutt, J. Lauster, C.-D. Osthövener, K.-W. Niebuhr), und zwei schließlich fragen nach »Instanzen der Lehrbildung und Lehrbeurteilung« (H.-P. Großhans) bzw. nach dem Verhältnis von theologischer Wissenschaft und kirchlicher Lehre (H.-M. Rieger). Dem multiperspektivischen Zugang des Bu­ches entspricht eine Pluralität der vertretenen theologischen Positionen. Exemplarisch seien vier Beiträge vorgestellt:

Nach V. Leppin bekam Luther den entscheidenden Impuls für das Neuverständnis des Evangeliums im Sinne des Sola gratia von Augustin, dem Repräsentanten der konstitutiven Tradition aus der formativen Phase des Christentums schlechthin. Erst in einer späteren Phase seiner reformatorischen Entwicklung sei Luther zum Schriftprinzip Sola scriptura vorgedrungen und habe jegliche Normativität von Tradition verneint. Dies bedeutete, so Leppin, bei Luther keineswegs einen Verzicht auf Tradition, sofern sie nur dem Selektionskriterium der Schriftgemäßheit entsprach. Luther sei sogar der Meinung gewesen, dass die Kirchenväter »eine Nähe zur Schrift repräsentierten, die später verloren gegangen war« (28). Leppins plausibles Fazit: »Luther ist geformt durch Tradition, er arbeitet mit der Tradition, aber er bestreitet jeg­liche normative Abhängigkeit der Theologie und kirchlichen Lehre von Tra­dition.« (30)
In seinem als öffentlicher Abendvortrag konzipierten Beitrag wendet sich U. Kühn gegen eine bloße Repristination des lutherischen Bekenntnisses und plädiert für dessen »weiterführende […] Interpretation im Lichte der Heiligen Schrift, des ökumenischen Dialogs und der gegenwärtigen Glaubens- und Lebenserfahrung« (139). So selbstverständlich dieses Plädoyer sein mag, so hätte man doch gerne Näheres darüber erfahren, warum Kühn insbesondere die lutherische Rechtfertigungslehre für revisionsbedürftig hält. Dieser Vorbehalt Kühns gegenüber dem nach lutherischer Überzeugung »articulus stantis et cadentis ecclesiae« macht immerhin seine Wertschätzung der »Gemeinsamen Erklärung« von 1999, um die es ansonsten ja auffallend still geworden ist, und seine Kritik an einer »Ökumene der Profile« plausibel. Unverständlich bleibt jedoch, warum Kühn ausgerechnet das päpstliche Lehramt grundsätzlich – trotz Kritik an dessen konkreter Struktur – als Beispiel für die Möglichkeit »einer sachgerechten, je heutigen, produktiv-innovativen Lehrautorität der Kirche« anführt (138 f.). Konsequent ist dann zwar seine »Offenheit für einen pastoralen gesamtkirchlichen Petrusdienst« (139 f.) – auch im Hinblick auf das Abendmahl und die Ethik wünscht er sich offenbar »einen ›katholischen‹ Akzent« (140) –, es fragt sich aber, ob eine wie auch immer geartete Rückbindung an Rom wirklich sachgerecht und zukunftsweisend ist, geschweige denn noch etwas mit dem reformatorischen Freiheitsverständnis zu tun hat.
C.-D. Osthövener gelangt nach einer Analyse des Apostolikumstreits von 1892 unter Berufung auf Harnack und Schleiermacher zu der Forderung nach einer konsequenten Historisierung nicht nur der Bekenntnisse, sondern »sämtliche[r] Quellen der Christentumsgeschichte«. Freilich komme den »Ursprungsdokumenten« bei der jeweiligen Bestimmung des »Wesentliche[n] der christlichen Religion« eine besondere Bedeutung zu – Osthövener spricht in diesem Zusammenhang von einem »unhintergehbaren hermeneutischen Zirkel« (202). Als Konsequenz wird eine institutionelle Reform der Universitätstheologie, die noch einer voraufklärerischen Konzeption verpflichtet sei, angestrebt: Bibelwissenschaften und Dogmatik sollten in den Bereich der historischen Theologie integriert werden. »Grundbedingung für eine fruchtbare öffentliche Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft« sei, wie es sich im Verlauf des 20. Jh.s gezeigt habe, die Fähigkeit »zu einer umfassenden Selbstrelativierung« (203). Fraglich bleibt dabei, ob die Schutzfunktion von Bekenntnissen bei der Abwehr von – etwa deutsch-christlicher – Irrlehre genügend gewürdigt wurde und wie ein Umschlagen von »umfassender Selbst­re­la­tivierung« in Beliebigkeit und Selbstbanalisierung wirksam zu verhindern ist.
H.-M. Rieger vertritt die ausgewogene These: »Die … Freiheit der Theologie gegenüber der Kirche und ihrer Lehre steht der Kirchlichkeit der Theologie, verstanden als Verwurzelung in einem ge­schichtlich gegebenen Praxisfeld und als Sich-bestimmen-Lassen von demselben Bestimmungsgrund nicht entgegen, sondern setzt sie voraus und ermöglicht ein Verhältnis wechselseitiger Kritik.« (276) Sechs konkrete »Ermöglichungsbedingungen einer wissenschaftlich-theologischen Lehrbildung« ließen sich »den lutherischen Bekenntnisschriften selbst abgewinnen« (ebd.): 1. die sich aus der »fundamentale[n] Differenz von Evangelium und Evangeliumsbezeugung« ergebende »Selbstrelativierungsfähigkeit« (277); 2. die »Fortsetzungsfähigkeit« im Sinne einer »Aneignung«, bei der aktualisierendes Fortschreiben und »Bewahren des durch alle Zeiten hindurch Identischen« zusammenzudenken seien (278 f.); 3. die »Begründungsfähigkeit« bzw. -bedürftigkeit des Bekenntnisses; 4. dessen »Kor­rekturfähigkeit« – hier wird u. a. auf die Vorrede zur CA verwiesen; 5. die in erster Linie spirituell gedeutete »Selbstbewährungsfähigkeit«, die gerade nicht »von Gnaden der Zustimmung eines Lehramtes« abhängig sei (283); 6. die »Transpartikulationsfähigkeit«: Es gelte, die christliche Glaubenswahrheit »vor an­deren gesellschaftlichen Instanzen diskursiv zu verantworten« (284).