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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

868–870

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gatz, Erwin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Katholische Kirche. Bd. VIII: Laien in der Kirche. Hrsg. unter Mitwirkung v. H.-G. Aschoff u. G. Fleckenstein. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 655 S. gr.8°. Lw. EUR 80,00. ISBN 978-3-451-23676-1.

Rezensent:

Hubert Kirchner

Überraschend, weil schneller als zu erwarten war, liegt mit dem achten Band zugleich der Schlussband der gesamten Reihe vor. Nach 17 Jahren hat damit ein Opus seine Vollendung erfahren, das seinesgleichen sucht. Das verlangt als erstes Anerkennung, Respekt und Dank. Wahrhaft exemplarisch für viele und vieles sind hier Entwicklungen, Umbrüche und Neuorientierungen der letzten beiden Jahrhunderte einsichtig gemacht ebenso wie die treibenden Kräfte, Hintergründe und nicht zuletzt die mannigfachen Verluste auf quasi allen Gebieten des kirchlichen Lebens aufgeführt. Es liegt damit eine Bestandsaufnahme und Rechenschaftslegung vor, die die übliche Zeitgeschichtsschreibung sonst kaum zu bieten vermag. Die römisch-katholische Kirche im deutschen Sprachraum hat damit ein Gesicht erhalten, wie es facettenreicher kaum dargestellt werden kann. – Dass der formelle Abschluss der Arbeit nichtsdestoweniger überrascht, liegt daran, dass mit Erscheinen von Band VII (2006) noch immer fünf der ursprünglich benannten Einzelthemen ausstanden. Drei davon – Laien, Verbände und Medien –werden nun in einem gemeinsamen Rahmen zusammengefasst, dem des Laien-Engagements. Dass mit Katechese und Gottesdienst jedoch gerade die beiden theologisch, ekklesiologisch und pastoral schwergewichtigsten Bereiche nach immer wieder neuen Zurück­stellungen schließlich ganz aus dem Programm genommen wurden, ist zu bedauern. Zumindest Teilaspekte beider Themen hätten (im An­schluss an die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils) hier einen passenden Rahmen finden können.
Nach wiederum ausführlichem Literaturnachweis (29–52) setzt das 1. Kapitel mit einem knappen Überblick »Zur kirchlichen Stellung der Laien im Zeitalter der Aufklärung« ein (E. Gatz, 53–70). Anknüpfend an die Lehre des Catechismus Romanus (1566), der eine Überhöhung des Priesteramtes für lange Zeit festschrieb, wird ein »Theoriedefizit« konstatiert, da auch das I. Vatikanische Konzil zu keinem wegweisenden Beschluss führte, der das einseitige Verständnis des »Laien« vom Priesteramt her hätte korrigieren können. Damit wird gleich auf der ersten Seite (wie andeutungsweise schon im Vorwort) das Hauptproblem benannt, das strenggenommen hinter der gesamten Darstellung steht. Thematisch angesprochen wird es aber nicht. Auch im Literaturverzeichnis fehlen entsprechende Hinweise. Und so bleiben ganze Abschnitte schwebend, weil ihnen ein theologisch tragfähiges Fundament fehlt. Das Defizit wird pragmatisch überspielt, was umso leichter fällt, als – wie schon im Vorwort unterstrichen – in den deutschsprachigen Ländern nichtsdestotrotz »die aktive und verantwortungstragende Mitarbeit von Laien in der Kirche und aus christlicher Verantwortung für die Gesellschaft eine lange Tradition« besitzt (5).
Im schon benannten ersten Kapitel, das den Ausgangspunkt für den eigentlichen Einstieg markiert, sind das vor allem die Handlungsfelder von Kirchenhoheit, Patronatswesen sowie kirchlicher Vermögensverwaltung. Das Staatskirchentum erfuhr eine mannigfache Ausprägung, was Laien in entscheidenden Positionen wesentlich über kirchliche Belange mitentscheiden ließ und zugleich das Pfarrprinzip stärkte. Einen dritten Schwerpunkt bilden die Bruderschaften als eine besondere Form sozialer Vernetzung, zumal in den Städten.
Kapitel 2 (D. Burkard, 71–113) schildert die Aktivitäten in der ersten Hälfte des 19. Jh.s, in dem sich gerade diese Tendenzen verstärkt fortsetzten. Andererseits sammelten sich jetzt aber auch unübersehbar Gegenkräfte, die in deutlich ultramontaner Gesinnung für die Freiheit der Kirche eintraten, getragen weithin von Laien, Vertretern des katholischen Adels oder des Bildungsbürgertums. Und die ersten Vereine entstanden als Vertretungen innerkirchlicher Interessen. Die beiden großen Themen der kommenden Jahrzehnte kündigten sich an: das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und das kirchliche Vereins- und Verbandswesen.
Das 3. Kapitel (H.-G. Aschoff, 115–191) überblickt den sich anschließenden weiten Zeitraum »Von der Revolution 1848/49 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges«. Deutschland wird zum »klassischen Land der katholischen Vereinsbewegung« (O. Köhler) mit dem »Volksverein für das katholische Deutschland« an der Spitze. »Wahrscheinlich war ein Drittel bis die Hälfte der katholischen Bevölkerung in kirchlichen Vereinen organisiert.« (148) Politischer Katholizismus, Zentrum, Kulturkampf, Katholikentage und Ge­werkschaftsstreit sind nur einige Stichworte, die für die großen Auseinandersetzungen in dieser Zeit stehen – nicht nur zwischen Kirche und Staat/Gesellschaft, sondern gerade auch innerkirchlich. Diese Themen waren teilweise noch sehr lange aktuell.
Die Folgezeit bis zum II. Vatikanischen Konzil bearbeitet F. Raabe in drei Kapiteln: die Periode der Weimarer Republik (193–220), die NS-Diktatur (221–252), die Jahre zwischen Kriegsende und Konzil (253–279). Wiederum fokussiert sich der Blick auf die Verbände. Dabei werden weder die Vorbehalte der neuen Republik gegenüber noch die anfängliche partielle Bereitschaft, sich der nationalen Be­wegung gegenüber zu öffnen, verschwiegen. Sehr schnell gerieten aber die Verbände als gesellschaftlich relevante Kräfte in das Fadenkreuz der antikirchlichen Aktionen des NS-Regimes. Nur einige Arbeitsbereiche konnten »unter dem Schirm der Seelsorge« das Schlimmste überstehen. Doch insgesamt gesehen erfuhr die Sozialgestalt des deutschen Katholizismus jetzt eine grundlegende und dauerhafte Veränderung, die nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur 1945 nicht wieder rückgängig gemacht werden konnte. Der politische Katholizismus etwa war im bisherigen Maße nicht wieder zu beleben. Zwischenzeitliche mehr oder weniger er­zwun­gene Besinnungen hatten zudem zu Ergebnissen verholfen, die nach neuen Formen verlangten. Zwar wurde an die Erfahrungen aus der Zeit vor 1933 angeknüpft, aber doch mit deutlich neuen Akzenten. Es zeigte sich vor allem eine »deutliche religiöse Akzentuierung der Laienarbeit«, eine »Tendenz zur ›Verkirchlichung‹« (278).
Kapitel 7, »Vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zur Gegenwart« (E. Gatz, 281–318) befremdet einigermaßen durch eine merkwürdige Sprachlosigkeit hinsichtlich der Konzilsbeschlüsse. Die entsprechenden Dokumente werden nicht einmal deutlich be­nannt, geschweige denn, dass die sachlichen Impulse gewürdigt würden. Der Blick richtet sich auf Aspekte der praktischen Umsetzung, vor allem auf strukturellem Gebiet, sowie auf die tiefen Einbrüche in Gesellschaft und Kirche, auf Konflikte und Wertewandel. Auch die nachkonziliaren Synoden, die doch nicht nur mit einzelnen Beschlüssen und Initiativen, sondern schon als Vorgänge das Laienelement in der Kirche besonders betonten, werden ausgesprochen knapp behandelt, wobei dieses Anliegen (Stichwort: Gemeinde) gerade nicht unterstrichen wird – ein Ergebnis offenbar des prinzipiellen Verzichts darauf, das schon eingangs konstatierte »Theoriedefizit« in Sachen der Stellung des Laien in der Kirche gezielt anzusprechen.
Die Kapitel 8, 9 und 10 behandeln die jeweils eigenen Entwick­lungen in der DDR (A. Wilke, 319–336), in Österreich (M. Liebmann, 337–377) und in der Schweiz (R. Weibel, 379–1442). Die vorgege­benen politischen Konstellationen, der forcierte Aufbau einer so­zia­lis­tischen Ordnung, der Ständestaat bzw. die kantonalen Son­derbedingungen erforderten jeweils eigene Lösungswege für die anstehenden Aufgaben. Anders als etwa in Deutschland wurde in Österreich die 1922 von Papst Pius XI. proklamierte »Katholische Aktion« zum erklärten Handlungsmodell. Im Bericht aus Österreich kommen nun endlich die entscheidenden Passagen der Konzilsbeschlüsse zur Sprache, auf die Akzeptanzschwierigkeiten wird hingewiesen wie auch auf die Schwierigkeit, die neuen Ratsgremien auf den verschiedenen Ebenen zu einem funktionstüchtigen Instrument werden zu lassen. Gerade das wäre ein spezifisches, wenn auch heikles Thema im Bericht über die Versuche in der DDR gewesen, die entsprechenden Konzilsimpulse umzusetzen. Die Meißner Synode hatte hier einen ihrer Schwerpunkte gefunden. An ihr und ihrem letztlichen Scheitern wären jene Grundprobleme des Themas fast exemplarisch zumindest aufzuweisen gewesen. Die Meißner Synode wird aber lediglich am Rande erwähnt.
Die Kapitel 11–14 widmen sich schließlich jeweils speziellen Arbeitsfeldern: Jugendseelsorge (E. Gatz, 443–482), Frauen in der Kirche (M. Sohn-Kronthaler und A. Sohn, 483–519), Ehe und Familie (G. Fleckenstein, 521–558) sowie Presse und Medien (D. Burkard, 559–602). Dieser letzte, in der ursprünglichen Planung eigentlich als eigener Band vorgesehene Abschnitt bietet einen informativen Überblick über den auch innerkirchlich nicht leichten Weg katholischer Publizistik bis hin zur Affäre um »Publik«. Unter den Non-Print-Medien sucht man leider das Fernsehen vergeblich. Auch die eigene Situation in der DDR kommt nicht in den Blick.
Drei ausführliche Register – Orte/Regionen, Namen und Sa­chen– beschließen den voluminösen Band. Äußerlich zeigt er sich in der gewohnten Qualität. Versehen sind selten. In summa: Wiewohl durchaus Wünsche und Erwartungen unerfüllt bleiben und manche Fragen sicher offen bleiben müssen, setzt der Band einen würdigen Schlusspunkt. Geboten werden nicht nur Überblicke, Entwicklungen und Tendenzen. Der Benutzer findet auch eine Fülle von Einzelheiten und erhält wichtige Hinweise auf Weiteres. Dafür sei den Autoren, von denen einige in mehreren Bänden vertreten waren, und vor allem dem verantwortlichen Herausgeber Erwin Gatz noch einmal gedankt. Es ist ihnen ein Standardwerk gelungen, das seinesgleichen sucht.