Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

866–867

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Pirson, Dietrich

Titel/Untertitel:

Gesammelte Beiträge zum Kirchenrecht und Staatskirchenrecht. 2 Halbbde.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. Halbbd. 1: XI, 584 S.; Halbbd. 2: IX, S. 585–1107 gr.8° = Jus Ec­clesiasticum, 84/1 u. 84/2. Lw. EUR 164,00. ISBN 978-3-16-149406-2.

Rezensent:

Norbert Janz

Dietrich Pirson hat seit den 1960er Jahren maßgeblich die staatskirchenrechtliche Entwicklung in Deutschland begleitet und mitgestaltet. Vielleicht augenfälligster Beleg hierfür ist das voluminöse Handbuch des Staatskirchenrechts (2. Aufl. 1996), welches er zu­sam­men mit Christoph Link herausgegeben hat und welches zu Recht allseits als singuläres Standardwerk gepriesen wird. P. ist gleichermaßen Theologe wie Jurist. Als Professor emeritus für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München kann er auf viele Jahrzehnte eindrucksvoller Schaffenskraft zurückblicken. ­– Auf über 1100 Seiten versammeln zwei Teilbände insgesamt 87 Beiträge des Doyens des deutschen evangelischen (Staats-)Kirchenrechts: Wegweisende Aufsätze und Reden aus den Jahren 1964 bis 2006, die teilweise nur mehr schwer greifbar waren, werden in Erin nerung gerufen. Es entsteht ein überaus vielschichtiges Kaleidoskop des Kirchen- wie Staatskirchenrechts, das auch und gerade zum 60. Ge­burtstag der Bun­desrepublik Deutschland die Wichtigkeit und Dynamik dieser Rechtsgebiete aufzeigt. Die einzelnen Beiträge, die zwischen drei und 40 Seiten Textlänge umfassen, sind sinnvoll in neun Kapiteln thematisch geordnet. Im Folgenden soll jeweils ein Aufsatz aus einem Abschnitt skizziert werden.
Im ersten Teil »Kirchenrecht. Allgemeine Fragen« analysiert P. den persönlichen Geltungsbereich kirchlicher Rechtsvorschriften. Er stellt die Frage nach den Adressaten des positiven kirchlichen Rechts, welches zutreffend als ein Konglomerat höchst heterogener Normen in einer überaus breiten Skala von kirchenrechtlichen Rechtsetzungsformen bezeichnet wird. Die meisten Vorschriften befassten sich mit der innerkirchlichen Organisation. Die verpflichtende Wirkung treffe überwiegend (nur) die Amtsträger. Dies unterscheide das Kirchenrecht in signifikanter Weise vom säkularen Staatsorganisationsrecht, welches nicht im Mittelpunkt staatlicher Rechtsetzung stehe. Das kirchliche Recht diene eben in erster Linie nicht der Sicherung individueller Positionen, sondern sei vom Wesen her ein Dienstrecht. Es gehe um die Erfüllung des Auftrags Christi an die Kirche. Individuen seien vor allem bei denjenigen Vorschriften über kirchliche Amtshandlungen, also z. B. Gottesdiensten, betroffen. Bemerkenswerterweise fehlten weitgehend Ge­setze, durch die den Kirchenmitgliedern Ge- oder Verbote auferlegt werden. Es werde vielmehr ein Verhalten erwartet, ohne dass dies mit einem Zwang korrespondiere. – Innerhalb der kirchlichen Rechtsgeschichte beleuchtet P. das Tridentinum, das mit Unterbrechungen von 1545 bis 1563 in Trient tagte und in einem engen Zusammenhang mit der durch die Reformation ausgelösten kirchlichen Krise stand und einen prägenden Einfluss auf die römisch-katholische Kirche der Neuzeit ausgeübte. Verlauf und Ergebnisse des Konzils werden ausgeführt, wobei besonderes Augenmerk auf die eherechtlichen Entscheidungen gelegt wird. Insgesamt markiere das Tridentinum die bleibende konfessionelle Spaltung des Deutschen Reiches. – Im Abschnitt »Kirchenverfassung« wendet sich P. dem intri­katen Problem der Grundrechte in der Kirche zu. Er erinnert an den Zusammenhang zwischen der Aufgabe der Kirchen und der Grundrechtstradition der christlichen Botschaft. Zu Recht postuliert er, dass die Idee der Menschenwürde aus der christlichen Ethik stamme. Eine Glaubensfreiheit innerhalb der Kirche lehnt er mit überzeugenden Argumenten ab; andere grundrechtliche Verbürgungen – etwa ein Recht auf Teilhabe – seien hingegen denkbar.
Das Kapitel D ist dem Amtsrecht gewidmet. Darin findet sich ein lesenswerter Beitrag zu der kirchenrechtlichen Bewertung po­litischer Aktivitäten in der Kirche, die immer wieder Anlass für Un­mut und Spannungen geben. P. zeigt sich voller Argwohn über allzu politisches Reden und Handeln, und zwar insbesondere bei der Identifikation mit partikularen politischen Positionen. Es handelt sich wahrlich um ein weites und vermintes Feld; seine Forderung nach besonderer Vorsicht und Umsicht ist unverändert aktuell. Jedenfalls müsse bei der Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrages viel Sorgfalt darauf verwandt werden, den Eindruck einseitiger Parteinahme zu vermeiden. Verhaltensregeln der Mäßigung und Offenlegung seien zu entwickeln. Es scheint, dass sich in diesem sensiblen Bereich in den Jahren seit Veröffentlichung dieses Aufsatzes, d. h. seit 1986, einiges zum Guten verändert hat. So­dann werden evangelische Kirchenverträge analysiert und ihre Gegenstände (überwiegend Gewährleistungen und Zusicherungen des Staates) benannt. Innerhalb einer knappen rechtlichen Bewertung weist P. darauf hin, dass dieserart Verträge erst dann Gültigkeit erlangen, wenn einerseits der Staat ein transformierendes Gesetz erlasse und andererseits die Synode zustimme. Eine positive Würdigung dieses Handlungsinstrumentes steht am Ende seiner Ausführungen.
Im Abschnitt »Eherecht und Kirche« wird das Auseinanderfallen von kirchlichem und staatlichem Eheverständnis genauer betrachtet. Es bestehe eine Konkurrenzsituation zwischen Staat und Kirche hinsichtlich der Eheordnungskompetenz. Divergierende Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Ehe seien möglich und nötig. P. betont die »andere Dimension« einer kirchlichen Eheschließung und weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein Pfarrer durchaus – anders als ein Standesbeamter – die Trauung verweigern könne, wenn die Heiratswilligen keine auf Lebenszeit angelegte Verbindung und volle Lebensgemeinschaft beabsichtigten. Die Bedeutung des Trauspruchs sollte nicht unterschätzt werden.
»Kirchenrecht und Oekumene« ist u. a. in dem Beitrag »Die Ökumenizität des Kirchenrechts« veranschaulicht. Kirchenrecht sei notabene partikulär. Es sei zu fragen, ob und wie weit das kirchliche Recht an jeder universalkirchlichen Beziehung jeder Partikularkirche teilnehme und ob auf diese Weise auch die Erscheinung der Universalkirche einer kirchenrechtlichen Würdigung zugänglich werde. Dies wird gleichermaßen gründlich wie erhellend erörtert.
Vier Aufsätze beschäftigen sich mit dem katholischen Kirchenrecht. Durchaus kritisch wendet sich P. der katholischen Rechtspflicht zum Glauben für alle Getauften zu. Firmiter credendum est könne für den pastoralen Bereich gelten, ansonsten handele es sich für Protestanten aber um einen eher befremdlichen Ansatz.
Das letzte ist zugleich das umfassendste Kapitel: 22 Beiträge befassen sich mit dem Staatskirchenrecht. P. diskutiert so wichtige Fragestellungen wie die Rechtswirkung des Kirchenaustritts, Sonn- und Feiertage oder christliche Traditionen in der staatlichen Schule. Von besonderem Interesse des Rezensenten ist die zeitlose Qualität der Weimarer Kirchenrechtsartikel, die P. im Jahre 2001 näher untersucht. Danach sollen diese Normen zuallererst als eine Frucht der Geschichte zu begreifen sein. Mit ihnen sollten nämlich die unausweichlichen Folgen einer bereits vollzogenen Trennung von Staat und Kirche bestimmt werden. Demnach seien die Artikel entwicklungsoffen, da ihnen eine ideologische Einordnung fremd sei. Vor allem das Paritätsgebot sei die notwendige, aber auch ausreichende Kautele im Hinblick auf künftige Entwicklungen, die verhindert, dass die unbegrenzte Dauer jener Regelungen in Ungerechtigkeit umschlage.
Insgesamt ist ein gelungenes Kompendium kirchen- wie staats­kirchenrechtlicher Überlegungen aus der Feder eines Mannes angezeigt werden, der es wie kaum ein Zweiter versteht, die wissenschaftliche Durchdringung mit eleganter Lesbarkeit zu verbinden.