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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

862–864

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Dreier, Horst, u. Hilgendorf, Eric [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts. Akten der IVR-Tagung vom 28.–30. September 2006 in Würzburg.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2008. 374 S. gr. 8° = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte. Neue Folge, 113. Geb. EUR 56,00. ISBN 978-3-515-09101-5.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der Band enthält die Vorträge der im September 2006 in Würzburg abgehaltenen Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie. Dabei werden in durchweg auf hohem Niveau abgefassten Beiträgen die Spannungen abgeschritten, die aus der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des modernen Verfassungsstaates auf der einen Seite und seiner historischen Prägung sowie der durch kulturelle Vielfalt hervorgerufenen Probleme auf der anderen Seite resultieren. Im Folgenden kann nur auf einige theologisch bzw. religionstheoretisch besonders interessante Beiträge hingewiesen werden.
Einleitend eröffnet Horst Dreier mit »Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen« (11–28) einen weiten Horizont. Nachdrücklich benennt er zuerst die Probleme, die die christlichen Kirchen mit den Menschenrechten und der modernen Demokratie hatten. Dann arbeitet er den »schwierigen Gedanken« aus, »daß der einheitsstiftende Konsens einer pluralen Gesellschaft im Dissens der divergenten religiösen, weltanschaulichen und politischen Positionen nicht seinen feindlichen Widerpart, sondern seine Grundlage hat« (28).
Im ersten mit »Grundlegende Orientierungen« überschriebenen Teil nehmen sodann die zwei Beiträge zu »Katholizismus und Rechtsordnung« (Ansgar Hense, 69–128) und »Protestantismus und Rechtsordnung« (Friedrich Wilhelm Graf, 129–161) breiten Raum ein. Hense bearbeitet sein Thema durch die Zusam­menstellung weiter historischer Rückblicke sowie detaillierter Re­ferate der unterschiedlichen katholischen Rechtstheorien. Zwar kann er so zeigen, dass aus der katholischen Staatsdoktrin mittlerweile eine politische Ethik geworden ist (114). Doch bleiben zahlreiche Spannungen zwischen katholischen Prinzipien und staatlicher Rechtsordnung, die sich in konkreten Konflikten zeigen, z. B. um den Schutz des menschlichen Lebens oder das Schul- und Bildungswesen. Dabei ist es Henses Anliegen, mögliche Abgrenzungen zu vermeiden. Ganz anders spitzt Graf, der sich auf Entwicklungen im deutschen Luthertum konzentriert, die Konfliktlinien eher zu und arbeitet so Grundspannungen wie die zwischen Individuum und Institution als bestimmend für eine durch Lutheraner erarbeitete Kultur- und Staatstheorie heraus. Dabei weist er gleichsam nebenbei detailgenau auf die konfessionellen Prägungen der Rechtsgelehrten und so die Bedeutung der Konfessionen auch für die Staats- (und Kirchen-)Auffassung hin.
Große Aktualität eignet den Überlegungen von Eric Hilgendorf zu: »Religion, Gewalt und Menschenrechte – Eine Problemskizze am Beispiel von Christentum und Islam« (169–190). Er erinnert an die »deutliche Affinität zwischen Religion und Gewalt …, während der Zusammenhang zwischen Religion(en) und den Menschenrechten weit weniger eng ist, als oft behauptet wird« (189). Zu­gleich zeigt er aber anhand des Katholizismus die Möglichkeit des tiefgreifenden Wandels von der Ablehnung hin zur Verteidigung der Menschenrechte auf – eine Entwicklung, die ihn einen derartigen »Zähmungsprozess« (190) auch für den Islam erhoffen lässt.
Der zweite, mit »Bereichsspezifische Analysen« überschriebene Teil lotet vor allem die Möglichkeiten einer Kulturtheorie des Rechts aus und untersucht dann die »christliche Imprägnierung« heutigen Rechts in Deutschland. Grundlegend setzt sich Christoph Möllers auseinander mit: »Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?« (223–244). Da­bei arbeitet er zuerst heraus, dass sich liberal-demokratische Verfassungen schwer damit tun, kulturelle Differenzen als solche wahrzunehmen und zu verarbeiten. Während der Kulturbegriff nämlich eine entdifferenzierende Tendenz hat (228), spitzen zu­mindest Gerichtsverfahren Konflikte zu und individualisieren sie, um sie entscheiden zu können (230). Allerdings schützen Grundrechte in demokratischen Verfassungen zugleich Minderheitenkulturen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Möllers überzeugend, möglichst bei Rechtskonflikten deren Rückführung auf kulturelle Identitäten zu vermeiden. Zugleich sollte aber auf Ver­fassungsebene geprüft werden, ob nicht demokratische Mehrheiten spezifische Regelungen zum Schutz bestimmter Kulturen einrichten können.
Gegenüber dieser vorsichtigen und abwägenden Argumentation erheblich entschiedener verfolgt Uwe Volkmann die Frage »Kulturelles Selbstverständnis als Tabuzone für das Recht?« (245–262). Unter Bezug auf zahlreiche Beispiele aus der Rechtspraxis sieht er eine Gefährdung in dem – s. E. zu weitgehenden – Rückzug des Staats aus dem Bereich der »geistigen Orientierungen« (254). Gegenüber der konstatierten Veräußerlichung des Staats weist er auf unaufgebbare Prinzipien hin, die »Menschenwürde, Grundrechte, Säkularismus und Demokratie« sowie die Gleichheit der Geschlechter (259). Zu deren Durchsetzung be­darf es zumindest der gemeinsamen Sprache, aber auch der »Zu­mutung der Konfrontation oder besser des Sich-Öffnens« (262), was Volkmann an einem Beispiel der Durchsetzung der Schulpflicht veranschaulicht.
Sehr instruktiv sind in ihrer methodischen und inhaltlichen Ge­gensätzlichkeit die beiden Artikel von Joachim Rückert bzw. Thomas Gutmann zu »Christliche Imprägnierung des BGB« (263–294) bzw. des Strafgesetzbuchs (295–313). Rückert zeigt durch genaue Auswertung umfangreicher Archivbestände vor allem über die Verfasser des Bürgerlichen Gesetzbuchs dessen christliche Prägung an einigen Beispielen auf. Nicht zuletzt die Tatsache, dass dieses Rechtskorpus zeitgleich zum sog. Kulturkampf entstand, lässt entsprechende Tendenzen vermuten (wobei dies auch antichristliche Elemente etwa hinsichtlich des Erbrechts geistlicher Personen erklärt). Rückert resümiert: »Das christliche Element begründet die kulturelle Identität unseres Zivilrechts mit einer Intensität und Selbstverständlichkeit, die unserem Verständnis nahezu entfallen ist.« (283) Dazu weist er abschließend auf den Vergleich zu anderen Rechten hin, der diese Charakteristik bestätigt. Ganz anders nähert sich Gutmann – den historische Befund lediglich oberflächlich streifend – säkularisationstheoretisch seinem Thema. Zwar stößt auch er im Strafrecht auf »säkularisationsre­sistente Komplexe«, die »sich nur schwer oder um den Preis von Verwerfungen auf postreligiöse Begründungen umstellen … lassen« (311). Doch plädiert er – auch angesichts schwieriger Probleme wie der Begründung der Menschenwürde – entschlossen für eine »Theorie symbolisch kollektiver Rechtsgüter des säkularen Rechtsstaats«, die exklusiv von »vernünftig diesseitigen Schutzzwecken« ausgeht (313). Das dabei leitende Zutrauen in die »Vernunft« verblüfft dann doch etwas.
Den letzten Beitrag des Bandes bilden die Ausführungen von Christine Schirrmacher zu »Rechtsvorstellungen im Islam. Grenzen und Reichweite des Rechtssystems ›Scharia‹. Dargestellt am Beispiel des Strafrechts sowie des Ehe- und Familienrechts« (349–364). Differenziert wird die Vielschichtigkeit des Scharia-Begriffs entfaltet und in ihren Besonderheiten und Problemen anhand der im Titel genannten Rechtsbereiche dargestellt. Dass dabei deutlich kritisch Töne leitend sind, verwundert – zumindest aus der Perspektive unserer christlich geprägten Kultur und deren vollständig anderen Rechtsverständnisses – nicht. Schirrmacher konstatiert: »Dort, wo die Scharia – zumindest teilweise – in der Praxis umgesetzt wurde, hat sie ihr Versprechen, den Menschen Würde, Freiheit und Gerechtigkeit zu erbringen, noch nicht eingelöst. Minderheiten und Frauen sind die ersten Leidtragenden auf dem Weg zu einer vermeintlich vollständigen Islamisierung.« (363)
Insgesamt liegt eine auch für Theologen und Religionswissenschaftler empfehlenswerte Publikation vor. Sie führt in die mannigfaltigen, durch das Nebeneinander kulturell verschieden geprägter Menschen entstehenden Problemlagen ein, angefangen vom Verfassungs- über das Straf- bis hin zum Zivilrecht. Dass dabei die einzelnen Autoren die Bedeutung des Christentums historisch und systematisch unterschiedlich bestimmen, sollte ein Ansporn für diesbezügliche theologische Forschungen sein. Die zahlreichen Literaturhinweise ermöglichen dabei unschwer einen Anschluss an die gegenwärtige juristische Theoriebildung.