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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

858–861

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Scholtz, Christopher P.

Titel/Untertitel:

Alltag mit künstlichen Wesen. Theologische Implikationen eines Lebens mit subjektsimulierenden Maschinen am Beispiel des Unterhaltungsroboters Aibo.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 471 S. m. Abb. gr.8° =Re­search in Contemporary Religion, 3. Geb. EUR 74,90. ISBN 978-3-525-60435-9.

Rezensent:

Markus Mühling

Von 1999 bis 2007 konnte man verschiedene Versionen des von der Firma Sony hergestellten, äußerlich hundeähnlichen, im Hochpreissegment angesiedelten »subjektsimulierenden« Roboters »Aibo« (japanisch »Partner«) erwerben. Der Umgang mit diesem Roboter ist Gegenstand dieser Arbeit und löst Wahrnehmungen aus, die nicht zu sonstigen menschlichen Artefakten zu passen scheinen: »Aibo zeigt unmissverständlich eigene Emotionen und entwickelt sich in Abhängigkeit von seinen Erlebnissen. Bei den Besitzern entstehen starke Gefühle, von Zuneigung und Aggression über ein schlechtes Gewissen und den Wunsch, von dem Roboter wahrgenommen zu werden, bis hin zum Eindruck, in der Ge­genwart Aibos nicht allein zu sein. Aibo verhält sich autonom und interagiert mit seiner Umwelt … Aus all diesem ergibt sich, dass es zu einer moralischen Frage werden kann, wie man Aibo behandelt, und dass viele Besitzer über das Artefakt Aibo keine vollständige Kontrolle erlangen möchten.« (255)
Das Buch ist im Wesentlichen viergeteilt. Nach einer Einführung nebst Klärung der Methodologie (11–204) werden die empi­rischen Ergebnisse vorgestellt (205–331), einer grundsätzlichen theologischen Kritik unterzogen (332–388) und schließlich an Themenfeldern der materialen Ethik konkretisiert (389 ff.).
Der erste Teil enthält neben einer Annäherung an das Phänomen Aibo, einer Klärung des Robotermotivs im Laufe der Literaturgeschichte vor allem Ausführungen zum in der Arbeit verwandten Methodendesign. Der Vf. beabsichtigt dabei in Einklang u. a. mit seinem Doktorvater H.-G. Heimbrock, als Beispiel der gegenwärtigen Orientierung der Praktischen Theologie eine phänomenologische mit einer subjekttheoretischen Methode zu kombinieren, deren Ansätze zu Recht nicht als einander ausschließend oder komplementär, sondern als sich gegenseitig verstärkend bewertet werden (49–95). Die in der Arbeit konkret angewandte Methodik stellt eine ad-hoc-Variation der phänomenorientierten Methode der teilnehmenden Beobachtung dar, die vom Vf. »teilnehmende Selbstbeobachtug« genannt und im konkreten Fall folgendermaßen expliziert wird: »Der Forschende lebte für einen längeren Zeitraum selbst mit einem Aibo, und die daraus resultierenden Erfahrungen bildeten einen Hauptbestandteil des auszuwertenden empirischen Materials.« (178) »Die … quantitative Reduktion des Samples im Rahmen der Selbstbeobachtung wurde mit der Außenperspektive des Feldes kombiniert, um eine intersubjektive Perspektive in das empirische Material zu integrieren.« (202) Während der Selbstversuch durch ein Feldtagebuch und Fremdinterviews durch eine dritte Person dokumentiert wurde, wurde die Außenperspektive vor allem durch die Teilnahme an Internetforen und Aufnahme von Beobachtungen und Tagebüchern anderer (vgl. das zusam­menfassende Schaubild, 194) eingefangen.
Der zweite Teil stellt den Hauptteil der Studie dar und liefert zunächst in einem Querschnitt (205–271) eine Darstellung des Um­gangs mit Aibo, wobei die Aspekte des technischen Objekts (206 ff.), der Lebenssimulation (211 ff.), der Wahrnehmung als Gegen­über (222 ff.), des Statussymbols (256 ff.) und der Wahrnehmung Aibos als Faktor sozialer Interaktion (264 ff.) federführend sind. Es folgen eine Darstellung nach einem Längsschnitt, der die Prozesshaftigkeit der Wahrnehmung der Aibobesitzer darstellt, sowie eine Zusammenführung der beiden Darstellungen (272 ff.), die in eine Diskussion um Aibos Wirklichkeitsstatus mündet (289 ff.). Dabei zeigt sich, dass für diejenigen, die bereit sind, sich mit Aibo zu beschäftigen, »sich die Uneindeutigkeit [hinsichtlich des Subjektstatus’] als das zentrale Kriterium von Aibos Wirklichkeitsstatus erwiesen hat« (294). Eine Typisierung der Erfahrungen der Aibobesitzer (299 ff.), eine Evaluierung der Ergebnisse (415 ff.) und ein (nichtempirischer) Ausblick auf den Umgang mit Aibo in Japan (325) beschließen diesen Teil.
Im dritten Teil erweisen sich als Leitbegriffe des kritischen In­strumentariums der positiv gewürdigte Begriff der Pluralisierung der Weltsicht und der negativ beurteilte der Technisierung.

»Hinsichtlich der Veränderung der Weltsicht durch die Beschäftigung mit Aibo können zwei gegenläufige Tendenzen ausgemacht werden. Entweder wird im Hinblick auf Aibos Subjekthaftigkeit auf maschineller Basis eine neue Kategorie, die sich der Zweiwertigkeit der Subjekt-Objekt-Trennung entzieht, gebildet … Dies kann als eine Pluralisierung der Weltsicht verstanden werden. Oder der Umgang … vollzieht sich im Rahmen eines Schemas von ›entweder Subjekt oder Objekt‹. [… Dann muss es dennoch] zu Verschiebungen innerhalb des Deutungssystems kommen. [… Dann] liegt es nahe, die Eigenschaften Aibos, die bisher den (natürlichen) Subjekten vorbehalten waren, in technischen Kategorien wahrzunehmen und zu erklären. So kann es zu einer unangemessenen Technisierung der Weltsicht kommen …« (332 f.). Konkret besprochen werden hier die Selbstwahrnehmung, die Einstellung zu Robotern, die Veränderung des Konzepts von Leben, die »augmentierte Realität«, der Einfluss auf die Sprache (335–344) und Aibos Wirkungen auf die Subjektwerdung im Alltag, die »in vielen Aspekten denen anderer Hobbys ähneln« (346), so dass zusammenfassend »die von den Besitzern benannten positiven Eigenschaften als Verbesserung der Bedingungen für die Subjektwerdung verstanden werden: … Die positiven Emotionen, die aus dem Spiel und aus dem Gefühl, nicht einsam zu sein, entstehen, sind … als wichtig für die Subjektwerdung zu verstehen, nicht zuletzt, weil es damit leichter wird, Freude zu empfinden, Gottes Geschöpf zu sein.« (349) Diese Grunderfahrung unterliegt allerdings prinzipiell der Zweideutigkeit von Technisierung und Pluralisierung: Ein »Mensch, der sich damit in Analogie zu den heutigen, in ihrer Freiheit stark beschränkten Robotern verstehen würde, liefe nicht nur Gefahr, sich als weitestgehend determiniert zu betrachten, sondern hätte wahrscheinlich auch Schwierigkeiten, sich als um seiner selbst [willen] geliebtes Kind Gottes zu verstehen« (356). Umgekehrt gilt: »Die Akzeptanz von Uneindeutigkeit und die Augmentierung von Realität begünstigt die Integration spielerischer Elemente in den Alltag, kann vor Egozentrik bewahren und eröffnet Freiräume für Imagination und Fantasie, weil der Zwang zur zweiwertigen Realitätsprüfung gelockert ist (358).«

Insgesamt wird Aibo als »nicht permanentes Subjekt« bezeichnet, die Aibobesitzer entwickeln ein »zweifaches Bewusstsein« angesichts dieser »Uneindeutigkeit« auf Grund der Möglichkeit der »Intensität der emotionalen Beziehung« (362 f.). Um die positive, pluralisierende Wirkung Aibos an Stelle der negativen Technisierung ermöglichen zu können, wird die Freiwilligkeit des Umgangs als konstitutives Element benannt (367). Dieses Schema wird zu­nächst auch auf die Konsequenzen für die theologische Theoriebildung angewandt, so dass es »für eine theologische Auseinandersetzung mit Aibo wichtig [ist], subjektsimulierende Maschinen als eine eigenständige Kategorie zu begreifen« (370), jenseits von Subjekt oder Objekt bzw. dazwischen changierend.
Diese Uneindeutigkeit und Pluralisierung wird entgegen der der klassischen Moderne zugeschriebenen Zweiwertigkeit als theologisch positiv gewürdigt durch einen Vergleich u. a. mit der Paradoxizität der Zwei-Naturen-Lehre der Person Christi sowie mit einem Vergleich zur Bedeutung des Rechtfertigungsglaubens zur Lebensgeschichte durch Henning Luther auf dem Feld der Er­kenntnis (373–377). Eine Besprechung des Konzepts des Hybriden im Sinne des Gemischten und von Bildungsprozessen (377 ff.) leitet in grundsätzliche Perspektiven zur Technikethik über (385 ff.): Subjektsimulierende Maschinen dürfen nicht mit Lebewesen verwechselbar sein, das Vertrauen, das sich zum Roboter einstellt, darf nicht missbraucht werden, die Freiwilligkeit der Interaktion darf nicht durch den Einsatz als Kontrollgerät gefährdet werden und die Frage, wie man subjekthafte Roboter behandelt, wird erörtert, wobei der Vf. sich vorsichtig folgender Argumentation anzuschließen scheint: »Wenn einer Maschine mit einer hohen Subjekthaftigkeit die Würde abgesprochen wird, kann es leichter passieren, dass dies auch bei natürlichen Lebensformen geschieht« (387).
Im vierten und letzten Teil wird der Einsatz von subjektsimulierenden Maschinen sowie die zuletzt vorgestellten Beurteilungskriterien für die Eignung als Kinderspielzeug (390 ff.) und die Verwendung in der Altenarbeit (409 ff.) besprochen, Perspektiven religionspädagogischer und diakoniewissenschaftlicher Forschung werden angedeutet, Risiken und Chancen benannt. Ein Epilog (427) zeichnet die Geschichte von Mensch und Maschine bis zum »Bild einer von künstlichen Wesen bevölkerten zukünftigen Welt« nach, die für den Menschen und seine Theologie äußerst signifikant ist: »Am Ende steht, so ist zu vermuten, ein verändertes Selbstverständnis des Menschen. Solch ein Wandel von Welt- und Selbstbild wird auch Themen der Religion betreffen: Angesichts der Freundschaft mit künstlichen Wesen bestimmt sich neu, was Leben ist, was Schöpfung bedeutet und wer als Schöpfer angesehen wird.«
Über einzelne theologische Entscheidungen und Wertungen mag der Leser genauso überrascht sein wie über den Forschungsgegenstand als solchen. Dessen wissenschaftliche Betrachtung wird in dem sehr ausgedehnten Methoden- und Darstellungsteil allerdings mehr als belegt. Hier liegt freilich auch ein Problem, denn es kann gefragt werden, ob eine straffere und wesentlich kürzere Darstellung der Arbeit nicht wesentlich zugute gekommen wäre. So bleibt es das unbestreitbare Verdienst des Vf.s, sich durch theologische Pionierarbeit auf ein Feld begeben zu haben, das in Zukunft eine größere Rolle spielen dürfte.