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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

856–858

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kohl, Klaus

Titel/Untertitel:

Christi Wesen am Markt. Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 323 S. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 54. Kart. EUR 54,90. ISBN 978-3-525-62402-9.

Rezensent:

Ulf Liedke

Die Diakonie wird in der Grundordnung der EKD eine »Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« genannt. Was steht mit dieser Formulierung in Rede? Und: Auf welche Weise ist die Diakonie Diakonie? So und so? So wie so? So oder so? Klaus Kohls Bonner Dissertation eröffnet mit diesem Wort- ein Sprachspiel, in dem es ihm um Wahrnehmen und Verstehen geht. Ist die Diakonie in expliziter Gestalt und implizit Diakonie? Ist sie es als christlich wie als anders motiviertes Handeln? Sind darüber hinaus auch Unterschiede des so oder so zur Sprache zu bringen? K. wählt zur Bearbeitung dieser Fragen die Methode des rekonstruktiven Verstehens.
Seine »Wahrnehmung der Wahrnehmung« (37) von Diakonie beginnt als Lektüre von Predigten, Leitbildern sowie der Diakonie-Denkschrift der EKD. Bereits die Predigten bringen für K. »die Herkunftsbegründung für die Sachbegründung« zur Sprache, »dass die Diakonie nicht die Kirche, die Kirche aber die Diakonie braucht, weil die Kirche, dem Wesen Gottes entsprechend, wesentlich Diakonie ist, während die Diakonie, dem Wesen Gottes entsprechend, auch außerhalb der Kirche stattfindet, nicht wesentlich Kirche ist« (92). Die Leitbilder führen ihn zu einem analogen Ergebnis. Lediglich die EKD-Denkschrift »Herz und Mund und Tat und Leben« weiche davon ab, weil in ihr ein Possessivverhältnis (»Die Kirche und ihre Diakonie«) unterstellt und die Forderung erhoben werde, »die Diakonie müsse kirchlicher werden« (193).
Als Zwischenergebnis seiner bisherigen Lektüreerfahrungen rekonstruiert er einen Text (196–207), der das helfende Handeln als eine »urmenschliche Wesens- und Lebensäußerung« (197) kenntlich macht, die (erst) im »Ergebnis verschiedener Erfahrungen und Absichten« (199) als Diakonie bestimmt werde. Aus dem Umstand, dass in den Texten Gott als Grund und Subjekt helfenden Handelns aufgefasst werde, könne allerdings »nicht geschlossen werden, dass alles helfende Handeln als Diakonie erkannt wird« (ebd.). Die »Formel von der Wesens- und Lebensäußerung der Kirche« sei »unterbestimmt«, weil die Diakonie als »eine Seinsweise Gottes« »sehr grundsätzlich … eine Seinsweise der Kirche [ist], ohne die diese nicht ist. Die Diakonie ist wie die Verkündigung Zeugnis der Kirche von Jesus Christus« (201).
Die Wahrnehmungen des Gegenstandes »Diakonie« werden im folgenden Kapitel durch sechs narrative Interviews mit insgesamt 32 Personen ergänzt. K. rekonstruiert diese Gespräche »als konstruktive Akte der Teilnehmenden zur Bildung einer Theorie der Diakonie« (264) in Hinsicht auf die in ihnen zur Sprache kommende Rede von Gott, der Diakonie und der Kirche. Diese entspricht weitgehend den bis dahin gemachten Lektüreerfahrungen und setzt nur an einer Stelle einen entgegengesetzten Impuls: »Die Diakonie braucht die Kirche, weil sie aus dem Glauben kommt und deshalb des Wortes Gottes bedarf.« (269)
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Stimmen, denen die Studie zuvor Gehör geschenkt hat, experimentiert K. in seinem ab­schließenden, dritten Hauptkapitel mit einer diakonischen Dogmatik, um die Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu deuten. Die Diakonie, so gibt sein eigener Text zu denken, sei eine »Seinsweise Gottes« und in Analogie zu dessen trinitarischem »Sein im Werden« (Jüngel) ebenfalls nur im Imperfekt möglich: »Die Diakonie ist im Werden« (275). Sowohl das Handeln Gottes mit Menschen als auch das helfende Handeln zwischen Menschen sei »ein reziprokes Geschehen, ein Tausch« (278) jeweils spezifischer Güter. Auch unter Marktbedingungen lasse sich daher angemessen von Gott sprechen: »Gott lässt mit sich handeln« (276). »Die ... Beschränkung der Kirche auf das Geschehen von Wort und Sakrament und auf ein exklusives Verständnis« sei »eine Unterbestimmung« (287), die K. durch ein inklusives Verständnis im An­schluss an Barmen 3 ersetzen möchte: Christus ist das handelnde Subjekt, und die Kirche bezeuge sich durch ihre Lebensäußerungen als sein Eigentum. Die Diakonie habe deshalb »neben der Botschaft und dem Glauben in gleicher Weise Zeugnischarakter« (288).
Christus sei in seiner Selbstdarstellung gegenüber der Welt nicht an die Kirche gebunden und »die Kirche um Gottes willen für die Welt entbehrlich« (295). Deshalb sei sie auch für die Diakonie entbehrlich. »Bezüglich der Kirche ist die Diakonie eine Wesens- und Lebensäußerung derselben. Bezüglich der selbständig organisierten Diakonie ist sie Diakonie als Seinsäußerung Gottes ohne Kirche und nicht eine andere Form von Kirche« (295 f.). Nachdem nunmehr die entscheidenden Figuren im Sprachspiel von der Diakonie bewegt worden sind, lassen sich auch die Spielregeln für das nach vorn offene Spiel benennen. Sie lauten: 1. Diakonie: so und so, d. h. Diakonie ist sowohl Wesens- und Lebensäußerung der Kirche als auch »die Fülle helfenden Handelns insgesamt« (297); 2. Diakonie: so wie so, d. h. in der organisierten Diakonie wie auch bei anderen Anbietern am Sozialmarkt entsteht partnerschaftliches helfendes Handeln; 3. Diakonie: so oder so, d. h. in der Vielfältigkeit des helfenden Handelns bleiben die Gegensätze von Kirche und Welt, Glaube und Unglaube, Gott und Welt verborgen und müssen in der Wahrheit der Liebe zur Sprache gebracht werden.
K. beschreitet in seiner Untersuchung den interessanten Weg einer »diakonischen Dogmatik von unten«, die induktiv von den Sprachgestalten ausgeht, in denen die Diakonie in Rede steht. Darin liegt m. E. ihr besonderer Reichtum. Die Einzelstudien zu den Predigten, Leitbildern, Interviews und der Diakonie-Denkschrift sind gerade in ihren spezifischen Ergebnissen aufschlussreich und öffnen den Blick auf die jeweiligen Kontexte, Motivationen und Ziele, kurz: ihren »Sitz im Leben«. Die Arbeit lädt so zur differenzierten Wahrnehmung, zum Dialog und zum kritischen Weiterdenken ein. Gerade die Vielgestaltigkeit einzelner Äußerungen scheint mir dagegen in den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel eher von der Hauptthese K.s überblendet zu werden. Diese Kernthese: »Diakonie kann ohne Kirche handeln« (299) erwächst auf dem Hintergrund der Annahme, dass die Diakonie »neben der Botschaft und dem Glauben in gleicher Weise Zeugnischarakter« (288) habe und eine »Seinsäußerung Gottes ohne Kirche« (296) sei. Damit wehrt K. kirchliche Vereinnahmungstendenzen ab, wie sie z. B. in der Diakonie-Denkschrift Ausdruck gefunden haben (165 f.185 f. 193). Wenn diese These aber über die institutionelle Kirche hinaus auch ihre theologische Dimension als des Sprachraumes betrifft, in dem das Evangelium kommuniziert wird, löst sie m. E. das Versöhnungshandeln Gottes von dessen Vergegenwärtigung ab. Der »Realgrund und der Erkenntnisgrund der Diakonie« (82) würden damit auseinanderfallen. Das Zeugnis der Diakonie bliebe aber ohne eine Sprache, in der es sich erschließt, unverständlich. Die einzelnen Stimmen, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, öffnen gerade diesen Sprachraum und ermöglichen so ein Verstehen dessen, was in der diakonischen Praxis Gestalt gewinnt.