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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

852–854

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gerber, Michael

Titel/Untertitel:

Zur Liebe berufen. Pastoraltheologische Kriterien für die Formung geistlicher Berufe in Auseinandersetzung mit Luigi M. Rulla und Josef Kentenich.

Verlag:

Würzburg: Echter 2008. 392 S. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 72. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-02993-7.

Rezensent:

Dorothea Greiner

Michael Gerbers Dissertation ist sowohl wissenschaftliches Werk als auch praxisrelevante Studie zu geistlichen Formationswegen. »Formation« wird dabei von ihm verstanden »als die Begleitung Einzelner oder Gruppen bei der Entdeckung und Entfaltung ihrer gottgewollten Berufung durch eine oder mehrere ausgewiesene Personen … eingebunden in den Kontext der Ausbildung durch eine Diözese, einen Orden bzw. eine ordensähnliche Gemeinschaft«.
Nach einleitenden Gedanken wird in einem Dreischritt zu­erst der Ansatz Luigi Maria Rullas (1922–2002) zur Formationsarbeit dargestellt, anschließend der von Josef Kentenich (1885–1968), um dann im dritten Schritt gewonnene Einsichten für die Konzeption gegenwärtiger und zukünftiger Formationswege zu benennen, die in acht eigenen Thesen gipfeln.
Der wissenschaftliche Wert der Darstellung des Ansatzes von Rulla ist schon dadurch gegeben, dass das Werk Rullas, der zusammen mit F. Imoda das Institut für Psychologie an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom gründete, im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipiert worden ist. Die trockene Fülle von Schemata, mit der Rulla Persönlichkeitsanalyse betreibt, wird übersichtlich präsentiert. Vor allem hebt G.s Darstellung hervor, dass Rulla prägende Persönlichkeitstheorien der Gegenwart kritisiert, weil in ihnen der Gedanke fehle, dass »menschliches Leben gelingt, wenn der Mensch sich auf Gott ausrichtet und von ihm her Vollendung erfährt«. Die Mitte von Rullas anthropologischem Ansatz ist die Charakterisierung des »Menschen als Wesen der Selbsttranszendenz«. In jedem Menschen gibt es einen transzendierten Anteil, der durch Akte der Selbsttranszendenz geworden ist, und einen transzendierenden Anteil, wonach er mittels seiner Fähigkeit zur Selbsttranszendenz strebt. »Freiheit und Selbsttranszendenz als Voraussetzungen der Liebe sind die tiefsten Wünsche, die unser Wesen motivieren«, so Rulla selbst.
Weil die Berufung den ganzen Menschen beansprucht (Ausrichtung des ganzen Lebens auf Werte theozentrischer Selbsttranszendenz), nimmt Rulla die bewussten, aber insbesondere auch unbewussten Werte, Bedürfnisse und Einstellungen des Menschen in den Blick. Besteht eine Übereinstimmung von Ideal- und bewusstem Real-Ich, aber ein Gegensatz zum unbewussten Real-Ich (LS), folgt daraus eine Dialektik zwischen der bewussten Übereinstimmung und dem unbewussten Gegensatz. Wird diese Dialektik bzw. Inkonsistenz nicht bearbeitet, liegen darin Hindernisse zur Selbsttranszendierung, zur menschlichen Reife und zur apostolischen Wirksamkeit. – Die Folgen des Zweiten Vatikanischen Konzils auf Formationswege werden von Rulla eher kritisch beurteilt. Das Ergebnis seiner empirischen Studien bezüglich der Entwick­lung der Reife stellt eine ernst zu nehmende Anfrage an gegenwärtige Formationsprozesse dar.
Kentenich war seit Berufung zum Spiritual des Studienheims Vallendar-Schönstatt im Jahr 1912 in der Formationsarbeit und Geistlichen Begleitung tätig. In seiner »Erziehungstätigkeit« verfolgt er das Ziel »freier, origineller Persönlichkeiten, die sich als von Gott geliebt und geführt erfahren« (143). Auch er betont wie Rulla die Notwendigkeit eines theologisch gegründeten und re­flektierten Menschenbildes und Wertesystems. Auch bei Kentenich sind menschliche Handlungen »bedeutend mehr getragen und getrieben von den unterbewussten Strömungen als von dem bewussten Wollen«. Daher ist auch für ihn die Beschäftigung mit dem »Seelenleben« von großer Bedeutung. Er kritisiert, dass auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Integration psychologischer Erkenntnisse für die Formationsarbeit kaum erfolgt sei.
Gottes Selbstmitteilung ist ein Wohnungnehmen im Menschen; in ihr teilt Gott wirksam sein Leben mit. Jede Begleitung von Menschen auf Formationswegen muss vom »Voraus« der göttlichen Initiative durchdrungen sein. Das »Voraus« der Gnade be­trifft auch das Unbewusste, auch die affektive Dimension des Menschen. Im Zusammenhang des Redens vom Unbewussten prägt Kentenich den Begriff des dynamisch zu verstehenden »Persönlichen Ideals«. Gemeint ist »der gottgewollte Grundzug oder die gottgewollte Grundstimmung der begnadeten Seele«. Auch in der affektiven Dimension und der unbewussten Dimension des Menschen zeigen sich Spuren des liebenden Rufs Gottes, dem es liebend zu antworten gilt. Im positiven Umgang mit der affektiven Disposition des Menschen folgt G. im dritten Teil eher Kentenich.
In diesem dritten Teil des Buches arbeitet G. – ohne unterschiedliche Akzentuierungen zu verschweigen – insbesondere die Gleichklänge der komplementären Ansätze heraus, die sich dann auch in seinen eigenen Thesen wieder finden. Im Herausarbeiten dieses Gleichklangs – gerade angesichts der Unterschiedlichkeit der Ausgangswege – liegt wohl auch das Interesse der Darstellung der beiden Ansätze. Dies impliziert, dass eine eigene Benennung kritikwürdiger Züge unterbleibt. Auch Anfragen an Rulla oder Kentenich von Dritten werden kurz dargestellt und im Kern abgewiesen. Dem Leser, der Leserin mag eine Verhaftung Rullas an scholastischen Vorstellungen und ein Denken in schematischen Begriffen aufstoßen, G. scheint dies nicht zu stören und anderes auch nicht; zumindest artikuliert er es nicht. Eine Fixierung mancher Teile der Schönstattbewegung auf Kentenich, durch die gerade geschehen kann, was Rulla in der »Ambivalenz der Identifikation« kritisiert (Beziehung und Personfixierung führen nicht notwendig zur Internalisierung berufungskonformer Werte), wird allenfalls angedeutet. Dies ändert nichts daran, dass das Buch durch die positive Aufnahme beider Ansätze wesentliche Impulse für die Formationsarbeit zu leisten vermag. Diese Impulse gehen insbesondere in Richtung der Betonung einer notwendig theologisch gegründeten und theologisch reflektierten Anthropologie, eines Verständnisses der Formationsarbeit als Prozess geistlicher Vertiefung auf dem Berufungsweg, der Bitte um ein Ernstnehmen unbewusster Widerstände in der Formationsarbeit und um den Rückgriff auf die Kompetenz der Humanwissenschaften (insbesondere der Psychologie), der Sensibilisierung für die Vorgängigkeit des gnadenhaften Handelns Gottes auch im Bereich der affektiven Dimension, um nur einige zu nennen. Ziel ist eine theologisch gegründete Professionalisierung der Begleitungsarbeit von Menschen auf Formationswegen, die den ganzen Menschen im Blick hat.
Die Veröffentlichung beschränkt sich legitim auf innerkatholische Argumentationszusammenhänge. Für evangelische Leser bzw. Leserinnen mag weniger ein Teil des Vokabulars fremd wirken als vielmehr die unhinterfragte Notwendigkeit, Menschen, die auf dem Weg ins Kloster oder in den Priesterberuf sind, in ihrem »Persönlichkeitskern« zu prägen, zumal die Grenzen und Gefahren solchen aktiven Prägens wenig benannt werden. Ebenso erscheint die das ganze Buch begleitende Verhältnisbestimmung des gnadenhaften Wirkens Gottes und der menschlichen Möglichkeiten auf dem Berufungsweg dogmatisch nicht befriedigend gelöst. Doch ob man die Vielzahl anregender Impulse des Buches annehmen kann, liegt weniger an diesen Anfragen als vielmehr darin, ob der Leser oder die Leserin sich in die Voraussetzung mit hineinnehmen lässt, dass die Vorbereitung auf den Pfarrberuf insbesondere ein geistlicher Weg ist, der auch geistliche Anleitung notwendig braucht. Für die im Protestantismus gegenwärtig anstehende Diskussion kann dieses Buch befruchtend sein.