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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

850–852

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schneider, Hans Julius

Titel/Untertitel:

Religion.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. X, 249 S. 8° = Grundthemen Philosophie. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-11-019598-9.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Hans Julius Schneider, Philosophieprofessor an der Universität Potsdam, reiht sich mit diesem Band ein in eine Gruppe deutschsprachiger Autoren, die ein seit geraumer Zeit aufkommendes, dezidiert philosophisches Interesse am religiösen Glauben verraten. Es ist ganz treffend, wenn S. sein Buch in einem Verlag erscheinen lässt, der »Religion« als ein »Grundthema der Philosophie« betrachtet (vgl. Thomas Rentsch, Gott, 2005). Dies kann durchaus programmatisch gelesen werden, zieht S. doch nun die philosophisch-konstruktiven Folgerungen aus dem neuzeitlichen Kunstprodukt eines Theismus, der selbst noch als negierter die theologische Tagesordnung implizit zu bestimmen scheint – insofern nämlich, als seine a-theistische Negierung mit der Verabschiedung jeglichen Glaubens an Gott einhergeht, so jedenfalls die Befürchtung. Es ist nun S.s Hauptanliegen, diese begrifflich verarmte Alternative zu unterlaufen, indem von einer referenzorientierten Semantik kuriert wird mit der sympathischen Konsequenz, dass »Gott« weder ein personales Objekt bezeichnet noch auf ein bloßes Konzept zu reduzieren ist; näherhin stellt es die radikaler ansetzende (Auf-)Lösung der unglücklichen Wahl zwischen Realismus und Nonkognitivismus dar, die sich in Stoßrichtung und Duktus als ein Wittgenstein-inspiriertes Unternehmen zu erkennen gibt.
In einem ersten Kapitel setzt S. mit Bruno Bettelheims Analyse klassischer Märchen und deren die Konstitution des menschlichen Selbst bestimmenden Orientierungsfunktion ein. Das Kind erlangt durch Geschichten Einblick in die Ambivalenz seiner Umwelt, weshalb Märchen nicht einfach falsche Illusionen sind, sondern in geglückten Fällen angemessene Mittel des Selbstverständnisses, der Selbsterweiterung (18 f.). S. deutet hier eher ex negativo die Übertragung dieser Beobachtungen auf religiöse Zusammenhänge an, indem er die Inadäquatheit eines positivistischen Bildes des Glaubens an Gott umreißt. Cleanthes, der empiristische Optimist aus Humes Dialogen, kann vor diesem Hintergrund nur als Ver­treter eines sich wissenschaftlich gerierenden Kinderglaubens erscheinen – eine Charakterisierung, die auch noch auf dessen Konterpart, den skeptischen Philo, abfärbt, dem zu den Begründungsphantasien des Ersteren nur eine zerstörerische Kritik einfällt, die lediglich die Antwort, nicht aber die Art zu fragen problematisiert (33.57). Ansätze, ebendies zu tun, erkennt S. in der Figur des »rechtgläubigen« Demea, dem eine kritisch-vorsichtige Rehabilitierung widerfährt; denn er ist es, der der Epistemologisierung der Religion absagt und verdeutlich, dass es in ihr nicht um geheimnisvoll ferne Gegenstände, sondern um uns nahe Lebensphänomene geht.
»Demeas Mystik« (34.171) bildet dann im zweiten Kapitel zu­gleich den Ansatzpunkt für S.s Rezeption von William James’ Religionsphänomenologie. Hier steht dessen Vorstellung einer »religiösen Erfahrung« im Mittelpunkt, welche »das Ganze« betrifft und die ihren Ausgang bei der menschlichen Machtlosigkeit nimmt (53 f.). Dennoch ist es nötig, diesen Erfahrungsbegriff doppelt abzugrenzen: einerseits von James’ eigenem Konstrukt des »Überglaubens«, welcher wiederum auf einen kosmologischen Adressaten referiert (60), und andererseits von der Illusion einer Erfahrungsprivatheit, die auf konfuse Weise deren notwendig soziale Gebundenheit übergeht (185 f.).
Damit ist S. bei »Wittgensteins sprachphilosophische[m] Befreiungsschlag« angelangt (Kapitel 3), d. h. bei dessen Begriffsarbeit an unseren Wörtern für »Inneres«. Eines der Hauptanliegen der Philosophischen Untersuchungen besteht darin, in die Heterogenität unserer sprachlichen Umgangsweisen einzuführen und uns von einem Bild menschlicher Sprache zu lösen, welches Bedeutung allein an Referenz koppelt. S. konzentriert sich auf Wittgensteins konzeptuelle Erkundungen zu »Schmerz«, um die dann auf den Gottesbegriff übertragene Korrektur zu illustrieren. Der abzuweisenden Vorstellung zufolge nimmt man auch mit »Schmerz« auf ein Etwas, ein »inneres phänomenales Objekt« Bezug (80.86). Doch wohin zeigen wir, wenn wir von Schmerz sprechen? Auf die Wunde oder ein inneres introspeziertes Objekt? Im einen Fall handelt es sich ganz bestimmt nicht um den Schmerz selbst, im anderen Fall ist da nichts, worauf wir zeigen. Schmerz ist – so formuliert S. wiederholt mit Wittgenstein (PU 304) – kein Etwas, aber auch kein Nichts. Hinter diesem Bild des Selbst jenseits kruder Dualismen steht die Kritik der sprachphilosophischen Konfusion, sinnvolle Worte stets als Etiketten für Gegenstände anzusehen. Das erscheint bereits in einfachen Beispielen unangebracht (z. B. logische Operatoren), kann mit Blick auf die Gesamtheit von Schmerzartikulation und -verhalten abgewiesen werden und behält seine Relevanz für den Gottesbegriff: Auch »Gott« bezeichnet kein Etwas, aber eben auch kein Nichts (71.94.97).
Die sich anschließenden drei Kapitel stehen im Dienst, die konstruktiven Konsequenzen für ein nicht-theistisches Bild religiösen Glaubens zu ziehen. So geht S. in einem sehr persönlichen Teil auf eigene Erfahrungen mit dem Buddhismus ein (Kapitel 4). Dieser wird vorgeführt als eine ganzheitliche Sicht auf das Leben ohne metaphysische Rückversicherung (136) – ein Impetus, den S. bei der Annäherung an Themen des Christentums beibehält. Dabei be­müht sich S. zunächst um die Rückgewinnung des Transzendenzbegriffs, der mit seiner sprachphilosophischen Marschroute kompatibel bleibt, indem er sich auf die Idee des »Gestaltwandels« fokussiert. Wie das bekannte Kippbild zwischen alter und junger Frau (oder zwischen Hase und Ente) würde auch die religiöse Sicht uns die Welt als etwas sehen lehren, das sich objektiv nirgends verändert hat, doch als Ganzes neu betrachtet werden kann; die Dinge haben eine neue »Färbung« erhalten (160), ein neuer irreduzibler Blick ist konstituiert (153). Transzendenz bezeichnet diesen Wandel und nicht länger einen uns kognitiv überfordernden Ort jenseits aller Orte. Ein neuer Interpretationsrahmen für das »Ganze« tut sich auf, eine sprachliche wie praktische Artikulationsform, die jedoch immer wieder der Gefahr der Ideologisierung ausgesetzt ist, wenn sie sich derart verabsolutiert, dass ihr Text die Welt »absorbiert« – so S. kritisch gegenüber George Lindbecks Intratextualismus (217.220).
Das bedeutet nach S. nicht, personal-theistische Redeweisen ausradieren zu müssen (165), sondern sich der grammatischen Bestandsaufnahme zu widmen, welche »Fortsetzungen«, den Glauben zu artikulieren, angemessen sind. Wenn etwa von Gottes Auge, dem nichts verborgen bleibt, die Rede ist, werden wir sicher nicht von seiner Augenbraue sprechen wollen. Der Theologie weist S. die Aufgabe zu, diese Rechenschaft über grammatisch zulässige Fortsetzungen zu leisten. Folglich setzt S. die Rede von Gott als Person nicht unumwunden mit einem theistischen Gottesbild gleich, woraus sich seine Kritik an Ernst Tugendhats Mystik ergibt. Während S. seine Sympathie für moderne Mystikformen bereits in der Charakterisierung Demeas offenlegt, erkennt er bei Tugendhat (und auch bei Rudolf Bultmann, 181–183) die Tendenz zur Vergegenständlichung Gottes (179.192 f.).
Ein Plädoyer für eine Religion jenseits von Theismen und Reduktionismen, welche einerseits die Balance hält zwischen Partikularität und Universalismus (208.227) und welche andererseits (lebens)praktisch bleibt, ohne in einer Moralisierung aufzugehen, beschließt dieses Buch (226). Demnach wird einer Religion ohne die metaphysischen Phantasien eines Gottes als Person nichts genommen, sondern sie wird neu loziert im Beziehungsgeflecht unseres Lebens, zumal der Unterschied, den sie markiert, nicht in konkurrierenden Überzeugungen über die Welt besteht, sondern im die Welt wandelnden Glauben selbst.
S. hat ein Buch vorgelegt, das umsichtig und einladend er­scheint, durchaus persönlich und doch argumentativ durchdrungen, zudem in der Präferenz des exemplarischen Einzelfalles vor den diesen eher verdunkelnden Generalisierungen allzu technischer Terminologie. Doch vieles bleibt im Vagen. Die Idee grammatischer Arbeit am religiösen Begriffsnetzwerk verfolgt S. ebenso wenig wie das affirmativ verwendete Orientierungskonzept. Auch investiert S. recht wenig in die für ihn so zentrale Vorstellung des Gestaltwandels, so dass offen ist, ob der Glaube das Aspekte-Sehen selbst darstellt oder einen der gesehenen Aspekte neben anderen – oder beides, und wenn dies, in welchem Verhältnis? Das dabei jedenfalls wirksame Zusammenspiel von Erfahrungsmöglichkeit und Begriffskompetenz stellt ein latent präsentes Thema dar, wird aber erst dort gestreift, wo das Buch leider insgesamt etwas an Stringenz einbüßt, nämlich gegen Ende.
Schließlich plädiert S. für ein »nachmetaphysisches Denken« (158), dem durch diese wohl unbeabsichtigte Doppelung besonderes Gewicht verliehen wird, bedeutet »meta« doch bereits »nach«. S.s schönes Buch hilft uns, entscheidende Schritte auf dem Weg hinter das, was nach der Physik kommt, zurückzulegen.