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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

845–848

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Görnitz, Thomas u. Brigitte

Titel/Untertitel:

Die Evolution des Geis­tigen. Quantenphysik – Bewusstsein – Religion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 372 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-56717-3.

Rezensent:

Roland M. Schüßler

Die Autoren, Thomas Görnitz, Quantenphysiker und Professor für Didaktik der Physik, und Brigitte Görnitz, Tierärztin und therapeutisch tätige Diplom-Psychologin, sind schon durch eine stattliche Reihe von Veröffentlichungen bekannt, die einem breiten Publikum die Quantenphysik als Kopernikanische Wende des modernen wissenschaftlichen Weltbildes auch für Laien verständlich vermitteln. Nun haben sie in einem Opus Magnum die einschlägigen Theorien zusammengefasst und in origineller Weise auf weitere Horizonte bezogen. Erstmals wird die von Th. Görnitz selbst entwickelte sog. Protyposis-Konzeption umfassend dargestellt und sogar auf Spiritualität und Religion bezogen.
Auf Grund einer neuartigen, mathematisch durchgeführten und systematisch durchdachten Verbindung von kosmologischen und quantentheoretischen Erkenntnissen gelingt es Th. Görnitz zunächst, den Begriff der Quanteninformation – entgegen dem weithin üblichen Verständnis von Information – abstrakt als »bedeutungsfrei« sowie als nicht auf Sender und Empfänger angewiesen zu fassen (vgl. 18.135). Auch physikalisch und mathematisch nicht bewanderten Lesern wird schnell klar, warum diese Abstraktion unumgänglich ist. Sie stellt sich nämlich analog Einsteins berühmter Formel E = mc 2 dar, in der Energie von allen Bewegungsvorgängen abstrahiert ist, auf die der Energiebegriff gemäß seiner Definition in der klassischen Physik Bezug nimmt. Nun ist es durch die Abstraktion auch des Begriffs der Quanteninformation möglich, sie ebenfalls als absolute Größe im Sinne der Physik zu verstehen und sie zugleich als Äquivalent gegenüber Energie und Materie aufzufassen. Die auf dieser Abstraktionsebene absolute Quanteninformation nennen die Autoren »Protyposis«. Sie zeigen, wie die allumfassende Welt der Quanten als Protyposis alles Seiende grundlegt und miteinander in Beziehung setzt. Sie schließt von vornherein ganz verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung ein, d. h. Quanteninformation umfasst auch die zu­künftigen Möglichkeiten eines bestimmten Quantenzustands. Als Pointe ergibt sich die erstaunliche Konsequenz, dass Gestaltungen nicht nur von Materie und Energie, sondern auch von geistig-seelischen Inhalten wie Gedanken und Gefühlen schon in Quanteninformationen der Möglichkeit nach impliziert sind.
Unter dem Bezugshorizont des Kosmos als des allumfassenden Zusammenhangs der Quanteninformationen ist unter der Protyposis das Potential aller Entwicklungen zu verstehen. Sie prägen sich (griech.: typóo) in sie ein wie in eine Ursubstanz. Selbst »die« Materie erscheint als »kondensierte Quanteninformation« der Protyposis gegenüber wie ein Sekundärphänomen. Sie wirkt somit eher geistig denn materiell, insofern eine derartige Differenzierung im Hinblick auf diese tiefe Seinsebene noch für sinnvoll zu halten ist. Analog der Wirkung quantenphysikalischer Messvorgänge interagieren Fakten und die Protyposis ständig miteinander, so dass neue Fakten entstehen, dadurch aber wiederum auch neue Möglichkeiten. Dieser ganze Prozess vollzieht sich nicht prinzipiell determiniert und bleibt ergebnisoffen. In dieser Einschätzung zeigt sich, dass die Quantenphysik das Weltbild der klassischen Physik überwindet und durch ein Modell interagierender Schichten der Wirklichkeit ersetzt, die aber als verschiedene Erscheinungsformen der Protyposis, also ein und derselben Substanz, allerdings keinen cartesianischen Substanzendualismus begründen.
Den Autoren gelingt es immer wieder, die sich hieraus ergebenden Schlussfolgerungen allgemein verständlich darzustellen und einen weiten Bogen zu schlagen: von der naturwissenschaftlich erkannten und mit einer neuen quantenphysikalischen Konzeption begründeten Einheit der Welt hin zu der spirituellen Erfahrung ihrer Einheit in der Mystik verschiedener Religionen. Anhand vieler Beispiele aus der Religionsgeschichte zeichnen sie Umrisse einer Meditationskultur, die nicht nur eine Einheit reflektiert, sondern auch für die Fülle der Möglichkeiten sensibilisiert, die, in der Schöpfung angelegt, von uns verantwortlich zu realisieren oder aber zu vermeiden sind. Die Einheit der Schöpfung wird damit als die eines gewaltigen Möglichkeitsraums erkennbar, der prinzipiell offen bleibt und uns als solcher anvertraut ist. Vor diesem Hintergrund ergeben sich nicht zuletzt überraschende Einsichten in die Aufgaben der Psychotherapie. Gerade hier kommt es auf Sensibilisierung für verborgene Möglichkeiten des Fühlens, Denkens und Verhaltens an. Bekannte Methoden der Psychoanalyse werden somit nicht mehr nur für die Rekonstruktion der biographischen Vergangenheit und die Analyse der Ursachen von Traumata und Übertragungen eingesetzt, sondern eröffnen neue Perspektiven für die Zukunft und lassen Alternativen gegenüber dem Zwang irreversibler Fakten entdecken. So gelingt es den Autoren, überraschende Analogien zwischen der Offenheit im großen Evolutionsprozess des Kosmos und der Offenheit im Individuationsprozess des Einzelnen aufzuzeigen.

Da Quanteninformation im Sinne der angesprochenen Abstraktion auch bedeutungsfrei sein kann, spricht Th. Görnitz nicht wie heute weithin üblich von Evolution als einem »informationsgewinnenden« Prozess, sondern vielmehr als einem »bedeutungsgewinnenden«; er meint aber wohl in dieser Beziehung das Gleiche. Dennoch stellt sich ein entscheidender Unterschied zu den heute populären Auffassungen in der Biologie einschließlich der Neurobiologie und Hirnforschung heraus. Er besteht darin, dass die Autoren immer wieder Möglichkeiten der Nicht-Determiniertheit (neuro-)biologischer Prozesse auf Grund ihrer quantenphysikalischen Erkenntnisse betonen. Ihnen zufolge ist nämlich keineswegs eine kausale Geschlossenheit der Welt und erst recht keine solche Geschlossenheit in den Prozessen des Gehirns vorauszusetzen. Denn an den »Bifurkationsstellen« instabiler Systeme – zu denen vor allem biologische Systeme und insbesondere Gehirne mit ihren billionenfachen synaptischen Verzweigungen und Konnektionsmöglichkeiten gehören – können sich Quantenprozesse makroskopisch auswirken. Dadurch entsteht nicht zuletzt ein Möglichkeitsraum für echte Spontaneität, die aber nicht zum Chaos führen muss, wie manche Kritiker der Begründung individueller Freiheit durch Quantentheorie behaupten. Quanteninformationen sind nämlich nicht nur wie (materielle) Teilchen aufzufassen, die sich als Quanten »unbestimmt« oder gar chaotisch verhalten. Sie stellen vielmehr ebenfalls Strukturen dar, die auch individuell sein können. Als solche quantischen Strukturen vermögen ebenfalls Gedanken und andere Inhalte des Bewusstseins zu wirken, und zwar derart, dass sie auch ihrerseits mit dem Organismus und Gehirn interagieren können (vgl. 19.266 f.277.323). Das heißt keineswegs, dass Gedanken für geheimnisvolle Energien zu halten seien, wie Esoteriker behaupten.
Immer ist auch zu bedenken, dass Wirkungsmöglichkeiten, ebenfalls von der Quantentheorie aus gesehen, an beträchtliche Grenzen stoßen. Die prinzipielle Offenheit des Möglichkeitsfeldes rechtfertigt also keineswegs postmoderne Beliebigkeit. Möglichkeiten unterscheiden sich nämlich gemäß ihrer verschiedenen Wahrscheinlichkeit. Dementsprechend sind auch Regeln in evolutionären Prozessen ebenso wie in Individuationsprozessen zu erkennen. Diese Einsicht steht nicht im Widerspruch zu der Überzeugung der Autoren, die heute in der wissenschaftlichen Welt allerdings wohl kaum akzeptiert wird: Quanteninformationen sind letzthin teleologisch ausgerichtet. »Information ist zu interpretieren durch ein ihr in der kosmischen Evolution eingeprägtes Streben nach Selbsterkenntnis« (21). Mag diese Überzeugung auch auf heftige Ablehnung stoßen, so ist doch m. E. den Autoren zuzugestehen: Ebenfalls in diesem Zusammenhang könnte eine bestimmte Wahrscheinlichkeit wie ein im Chaos verborgener »Attraktor« den evolutionären Trend bestimmen. Diese Wahrscheinlichkeit und ebenso ein derartiger Attraktor entziehen sich allerdings unserer Empirie. Informationelle Selbstreflexion ist jedenfalls in der Evolution möglich, wie unser eigenes Bewusstsein beweist. Warum sollte sie nicht auch von vornherein wahrscheinlich gewesen sein? Schließlich entsteht im Zuge der Evolution auch immer größere Komplexität.


Das Werk lässt sich gegenüber der zurzeit in den (Natur-)Wissenschaften vorherrschenden materialistischen Sicht der Evolution als Kopernikanische Wende einschätzen. Sie stellt nicht zuletzt den auf das 19. Jh. zurückgehenden Determinismus in der Neurobiologie und Hirnforschung in Frage, der dieser materialistischen Auffassung entspricht. Im Hinblick hierauf begründen die Autoren die herausragende naturwissenschaftlich fundierte Gegenposition, aus der sich entscheidende naturphilosophische Konsequenzen ergeben. Sie sind folgendermaßen zusammenzufassen:
1. Da auf Grund von Information als »Ur-Sache« auch Geist (im ontologisch gleichen Sinne wie Materie) »ist«, muss er als gleich ursprünglich und gleichermaßen real wie Materie gelten. Die langwierige, immer noch geführte Diskussion »Wie kommt der Geist in die Materie?« beruht auf falsch gestellten Fragen! Geist ist jedenfalls nicht etwa nur ein Epiphänomen der Materie; er beruht auf Quanteninformation ebenso wie die Materie als »kondensierte Quanteninformation«. Damit ist m. E. nicht gesagt, dass Quanteninformation schon »das eigentliche Wesen der Dinge« im philosophischen Sinne bedeutet. Denn Information wird hier zunächst nur als der Materie und Energie äquivalent herausgestellt. Insofern kommt lediglich zum Ausdruck, dass wir jedenfalls nicht Materie und Energie als Grundentitäten ansehen können, die das Wesen der Dinge ausmachen, wie Materialisten behaupten.
2. Dennoch zeichnet sich in der Quantentheorie eine raum- und zeitlose »Ur-Substanz« des ganzen Kosmos ab, worauf der Protyposis-Begriff hinweist. Im Hinblick hierauf kann man auch wissenschaftlich begründet von einer Realität sprechen, die »ursprünglicher« – d. h. dem »Urgrund« des Kosmos mehr gemäß – wirkt als die Kategorien von Raum und Zeit sowie die ihnen entsprechend erscheinenden Phänomene, über die unsere Erkenntnismöglichkeiten angeblich nicht hinauszureichen vermögen. Daraus lässt sich m. E. der Schluss ziehen, dass ein Jenseits von Raum und Zeit (ontologisch) wirklich »ist«.
Von hier aus gesehen sind insbesondere unter religionspsychologischem Aspekt einige Fragen aufzuwerfen. Vor allem stellt sich das Problem, wie in der Theorie der Autoren der Glaube an einen personalen Gott noch Raum haben könnte. Die Autoren umgehen dieses Problem keineswegs, sondern konfrontieren mit ihm so, dass ihre Stellungnahme als ein vielfältig interpretierbarer Anstoß zu weiterem Nachdenken aufzunehmen ist: »Ein wichtiger Aspekt des Göttlichen ist Personalität. Wenn Personalität als die reflexionsfähige Selbstbezüglichkeit eines hinreichend großen Systems von Quanteninformation erklärt wird, so wird man nicht umhinkönnen, die Möglichkeit dafür dem Göttlichen zubilligen zu müssen ... Dennoch gilt gleichberechtigt die ebenfalls aus dem christlichen Gedankengut stammende Aussage von Meister Eckhart ›ein Nichtgott, ein Nichtgeist, eine Nichtperson‹.« (348)
Das impliziert für christliche Theologie eine Denkmöglichkeit, auf welche die Autoren jedoch nicht eingehen. Es fragt sich doch: Wäre letztlich nicht auch eine Evolution des Kosmos denkbar, die ihn – im Zuge einer Vollendung des von der modernen Kosmologie herausgestellten »Anthropischen Prinzips« – so mit selbstreflexiver Information erfüllt und demgemäß »vernetzt«, dass er der Vision Teilhard de Chardins entspricht? Ihr zufolge läuft ja die Evolution des ganzen Kosmos auf eine Art Person-Sein, d. h. hier den »Kosmischen Christus«, hinaus: auf die Omega-Welt des Geistes, auf eine Welt also, in der Gott, dessen Wesen Johannes als Liebe aufgefasst hat (1Joh 4,16), »Alles in Allem« ist (1Kor 15,28). Auch von dem quanten-informationstheoretischen Ansatz der Autoren aus gesehen würde eine solche Vision wohl nicht ausschließen, dass ein so vorgestellter Gott in gewisser Weise auch schon jetzt Gegenwart ist. Denn was ist Zeit (315 f.)?

Insoweit insbesondere die christ­liche Theologie durch die »Evolution des Geis­tigen« mit für sie immer noch weitgehend neuartigen Denkmög­lichkeiten konfrontiert wird, so scheint sie doch zugleich auf eine Denk-Unmöglichkeit zu stoßen, nämlich angesichts der Rolle des Zufalls in quan­tentheoretischen Konzepten. Hier wäre in erster Linie an die traditionelle Vorstellung eines Gottes zu erinnern, der als »Allmächtiger« die ganze Schöpfung gleichsam wie eine Ansammlung von Marionetten dirigiert. Die Theologie sieht sich also gegen­über einem derartigen – für viele Zeitgenossen geradezu absurd anmutenden, aber immer noch verbreiteten – Gottesbild vor die Aufgabe gestellt, ein neues Verständnis für den dogmatischen Begriff der sog. Omnipotenz Gottes zu konzipieren. Einen Hinweis hierfür vermag schon die Etymologie dieses lateinischen Wortes zu geben: Abgeleitet von »posse« (können, vermögen), könnte das Partizip »potens« auch entsprechend der Verbform »potest« (es ist möglich) als »möglich seiend« interpretiert werden. Könnte nicht dieses von der Theologie auf Gott bezogene »allmöglich Seiende« als das unendliche Möglichkeitsfeld gelten, das die Quantenkosmologie als Urgrund des Universums auffasst und von Thomas Görnitz als »Protyposis« bezeichnet wird?

Schöpfung als Möglichkeitsraum, als Nichts und Fülle zugleich (313f.)? Hat etwa Gott die Schöpfung für seine Geschöpfe als »Spiel-Raum« erschaffen? Ist er womöglich »Raum selbst«, wie schon Rabbinen meinten? Und wie steht es um die christliche Grundüberzeugung, die Osterhoffnung? Am Ende ihres Werks äußern sich die Autoren auch dazu – zwar zurückhaltend, doch eindeutig: Die »Information, die dasjenige ausmacht, was wir als Persönlichkeit ansehen, verschwindet nicht deshalb, weil sie sich von ihrem Träger löst … Aus naturwissenschaftlicher Sicht kann nichts, auch keine Quanteninformation, den Kosmos verlassen. Selbstverständlich ist die Struktur dieser Information nach dem Tode jedenfalls verschieden von der des Lebendigen, aber sie existiert weiterhin« (351).