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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

841–843

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Dorothea [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beiträge zum 400. Geburtstag.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VIII, 374 S. gr.8°. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149589-2.

Rezensent:

Johannes M. Ruschke

2007 jährte sich der Geburtstag des lutherischen Pfarrers, streitbaren Konfessionalisten und bedeutenden Liederdichters Paul Gerhardt zum 400. Mal. Im Rahmen dieses Jubiläums zeigte sich, dass die Fülle an Literatur über ihn in einem Missverhältnis zu den ge­sicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Umso erfreulicher ist, dass hier nun anspruchsvolle wissenschaftliche Beiträge einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Die durch D. Wendebourg herausgegebene Aufsatzsammlung geht auf zwölf Vorträge zurück, die auf einer Ta­gung im Juni 2007 in Berlin gehalten wurden. Diese Gerhardt-Tagung erhob den Anspruch, »ein möglichst viele Facetten seines Lebens und Schaffens sowie der Re­zeption seines Werkes umfassendes Bild nach dem neuesten Stand der Forschung zu bieten« (Vorwort). Eine der großen Stärken ist die Interdisziplinarität des Sammelbandes. Er bietet Forschungsbeiträge aus der Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte ebenso wie aus der Literatur- und Musikwissenschaft und berück­sichtigt somit bedeutende Dimensionen von Gerhardts Wirken.
Als Auftakt stellt der Frühneuzeithistoriker H. Schilling (Berlin) das geschichtliche Umfeld dar, indem er die politische, ökonomische, soziale und zum Teil auch soziologische Situation der Zeit und Umgebung Gerhardts entfaltet. A. Stegmann (Berlin) widmet sich dann in seinem quellengestützten Aufsatz Gerhardts Wittenberger Studienzeit. Trotz der ausführlichen Untersuchung des zeitgeschichtlichen Kontextes, des Profils und Lehrangebotes der theologischen Fakultät Wittenbergs sowie der Nachzeichnung eines im frühen 17. Jh. üblichen Theologiestudiums muss auch Stegmann eingestehen, dass es keine hinreichenden Belege für die Inhalte von Gerhardts Studium gibt und man hinsichtlich Gerhardts Prägung hauptsächlich auf Vermutungen angewiesen ist. Klar scheint jedoch, dass Gerhardt »eine umfassende philologische, philosophische und theologische Ausbildung genossen« hat. Diese verschaffte ihm die für sein späteres Leben wegweisende »vertiefte lutherisch-konfessionelle Identität« (64). Trotz vieler guter Er­kenntnisse wage ich Stegmanns abschließender Behauptung zu widersprechen: Man muss nicht zwingend notwendig ein Verständnis für die lutherische Theologie besitzen, um die Schönheit der Gerhardtschen Texte zu sehen. Gerhardts Texte sind auch heute noch aktuell, nicht weil sie von Theologen in ihrer Schönheit und Tiefe tradiert wurden, sondern weil sie von theologischen Laien für ›schön‹ befunden und vor allem auf Grund ihres Trostcharakters angeeignet und weitergegeben wurden!
Der Literaturwissenschaftler H.-H. Krummacher (Mainz) geht Gerhardts Stellung in der Dichtung des 17. Jh.s nach. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das Fundament von Gerhardts Dichterfähigkeit im Bildungswesen der Zeit zu suchen ist, stellt Krummacher die Besonderheiten Gerhardts im Vergleich zu J. Heermann, J. Rist und A. Gryphius heraus. Krummacher folgt trotz mancher überzeugender Ergebnisse der allgemein verbreiteten Tendenz, eine Grundvoraussetzung für Gerhardts einzigartiges dichterisches Wirken aus den Augen zu verlieren: sein Talent, brennende Fragen der Zeit in die Gottesbeziehung aufzunehmen und durch seine einprägsamen, ebenso einfachen wie tiefgreifenden Verse generationenübergreifend Menschen anzusprechen. Krummacher ist abschließend der Meinung, dass Gerhardts Dichtung erst dann verstehbar sein wird, »wenn es ganz gelingt, dieses eigentümliche Miteinander von theologischer Aussage und literarischer Form … im einzelnen genau aufzudecken und zu beschreiben« (89). Die Beiträge des Literaturwissenschaftlers W. Kühlmann (Heidelberg) über die lateinische geistliche Dichtung der Zeit und der Hymnologin I. Scheitler (Würzburg) über das katholische Kirchenlied zur Zeit Gerhardts zeichnen sich durch detaillierte Quellenkenntnisse aus und zeigen Parallelen zu Gerhardts Dichtungen auf.
N. Slenczka (Berlin) kommt es in seinem ertragreichen systematisch-theologischen Aufsatz darauf an, »eine Strukturähnlichkeit zu identifizieren, die Paul Gerhardt mit Luther verbindet« (142). Dabei ist es Slenczkas Verdienst, Gerhardts Leichenpredigten zu untersuchen, die in der bisherigen Forschung stark vernachlässigt wurden. Als entscheidendes Stilmittel Gerhardtscher Predigt arbeitet Slenczka eine »Entindividualisierung« heraus; das Vorbild Christi wird den Predigthörern zum Exempel ihres eigenen Sterbens. Die wichtigste Gemeinsamkeit Gerhardts mit Luther sieht Slenczka darin, dass »die individuelle Aneignung im Modus Ich darauf abzielt, den Sänger zu integrieren in ein Ich, in dem er sich wiederfindet, das aber gleichsam ein überindividuelles Ich ist: Die Kirche, der Glaube« (154).
A. Beutel (Münster) untersucht in seinem Aufsatz detailreich, aber angenehm knapp die Beziehung Gerhardts zum Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Beutel macht deutlich, dass die »auf konfessionellen Ausgleich bedachte religiöse Toleranzpolitik Fried­rich Wilhelms« (163) im Rahmen einer die Grundmuster des konfessionalistischen Zeitalters überwindenden Neuorientierung zu verstehen ist. Diese Toleranzpolitik war für den damaligen Berliner Pfarrer Gerhardt, der »als ein besonders intransingenter Vertreter der lutherischen Orthodoxie jedes noch so kleine Einlenken gegenüber dem ›calvinistischen Synergismus‹ als einen Dammbruch perhorreszierte« (167), nicht tragbar und rief Widerspruch hervor. Der Berliner Kirchenstreit offenbarte Gerhardts starke Bekenntnisbindung ebenso wie seine starre konfessionalistische Prägung und führte schließlich zur Enthebung vom Berliner Pfarramt. Beutel gibt einen guten Überblick über die heutzutage möglicherweise am befremdlichsten erscheinenden Epoche aus Gerhardts Leben und gibt Anstöße für weitere quellengestützte Forschungen.
U. Mennecke (Bonn) beschäftigt sich mit Liedern von Gerhardt zu Krieg und Frieden, berücksichtigt allerdings nur drei Lieder. C. Bunners (Berlin) untersucht die herausragende Rolle J. Crügers als Herausgeber und Melodist Gerhardts und betont, dass Crüger »das komplexe Amt eines lutherischen Kantors geradezu idealtypisch ausgefüllt [hat]« (212). Die Musikwissenschaftlerin E. Liebig (Göttingen) beleuchtet anschließend die Rolle des Kantors und Komponisten J. G. Ebeling als eines weiteren wichtigen Vertoners Gerhardtscher Dichtung. Ausgehend von der wiederentdeckten ersten Ausgabe von Ebelings »Geistlichen Andachten« (1667) betont Liebig unter anderem, dass es Gerhardt selbst war, der durch die Neuausgabe seiner Lieder eine »Theologia Thetico Melica« (d. h. eine Glaubenslehre in Liedern) schaffen wollte. M. J. Haemig (St. Paul, USA) informiert über Rezeption von Gerhardts Leben und Dichtung in den USA. J. Henkys (Berlin) setzt sich am Beispiel des Liedes »Nun ruhen alle Wälder« mit der Rezeption von Gerhardt-Liedern in der deutschen Gesangbuchgeschichte auseinander.
Lobenswert sind die am Ende des Bandes durch A. Stegmann edierten Quellen zu Gerhardts Studienzeit: Der einzig bisher be­kannten gedruckten Disputation Gerhardts aus dem Jahr 1630 folgt die Wiedergabe von 16 Vorlesungsverzeichnissen. Die Benennung von (interdisziplinären) Forschungsdesideraten (zum Berliner Kirchenstreit, zu den biblischen und theologischen Vorlagen der Dichtung, zu den Leichenpredigten, zur Biographie Crügers, zu einer neuen textkritischen Liederausgabe) ist eine Stärke vieler Aufsätze.
So verdienstvoll und ausführlich die im Dezember 2007 abgeschlossene Bibliographie am Schluss des Bandes ist, bedarf sie je­doch zweier wichtiger Anmerkungen: Wünschenswert wäre zu­sätz­lich ein Verzeichnis der wenigen noch erhaltenen Quellen zu Gerhardts Leben und Werk gewesen, um die bestehenden Ver­zeichnisse zu aktualisieren. Erstaunlich ist, dass bei der Sekundärliteraturauflistung neben J. M. Schamelius (1724/37), J. C. Müller/G. G. Küster (1737/52) und S. Weichenhan/E. Ueberschär (2003) die wichtigen Werke von D. H. Hering (1784–87) und H. Landwehr (1894) nicht erwähnt werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dieser interdisziplinär angelegte Sammelband trotz des Fehlens eines eigenen biographischen Überblicks ein umfassendes wissenschaftliches Bild von Gerhardts Werk und Wirkung zeichnet. Da viele Beiträge als Teil von Forschungen der Autoren zu den vorgestellten Themenbereichen zu sehen sind, zeigen sie den derzeitigen Stand der Forschung und ergänzen ihn um einige neue Erkenntnisse. Der Sammelband ist somit ein wertvoller Beitrag zur Erforschung Paul Gerhardts und seiner Zeit.