Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

838–841

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Selander, Sven-Åke u. Hansson, Karl-Johan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luthers psalmer i de nordiska folkens liv. Ett projekt inom forskarnätverket Nordhymn. [Die Kirchenlieder Martin Luthers im Leben der skandinavischen Völker. Ein Projekt im Forschernetzwerk Nordhymn.]

Verlag:

Lund: Arcus 2008. 800 S. gr 8°. Geb. EUR 37,00. ISBN 978-91-88553-16-4.

Rezensent:

Birgit Stolt

Dieser stattliche Band bietet ein Panorama der skandinavischen Rezeptionsgeschichte der Kirchenlieder Luthers, hervorgegangen aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt, an dem Theologen, Musikwissenschaftler, Literaturforscher, Historiker, Soziologen, Pädagogen und Pfarrer aus fünf Ländern beteiligt waren. Es wurde finanziert von Nordiska samarbetsnämnden för humanistisk och samhällsvetenskaplig forskning (NOS-HS = Nordische Kom­mission für gemeinsame humanistische und gesellschaftswissenschaftliche Forschung) und durchgeführt unter der Leitung von NORDHYMN, einem Netzwerk für hymnologische Forschung in Skandinavien. Die Planung wurde 1995 in Angriff genommen. Rund 60 Forscher haben während der Jahre 2003 bis 2006 neben ihrer normalen beruflichen Tätigkeit mitgearbeitet und sich in der Regel zu zwei jährlichen Kongressen getroffen. 38 von ihnen sind im vorliegenden Rapport vertreten. Beiträge auf Dänisch, Norwegisch und Schwedisch wurden in ihrer jeweiligen Sprache wiedergegeben, während finnische und isländische Texte ins Dänische oder Schwedische übersetzt worden sind. Die Zusammenfassung wird dankenswerterweise sowohl auf Schwedisch als auch Deutsch und Englisch dargeboten (711–740, deutsch 720–729).
Eine nach Ländern gegliederte »Bibliografi over Luthers salmer i Norden« gibt anschließend zunächst eine chronologische Übersicht über die Kirchengesangbücher (743–759), Choralbücher (760–771) und Kirchenhandbücher (»Ritualbøger«, 772–785) , was bereits den vielfältigen Gebrauch der Lieder sehr augenfällig illustriert, bevor sich die ebenfalls nach Ländern gegliederte Bibliographie der Sekundärliteratur (»Litteratur om Luthers salmer«) daran an­schließt (786–800). In dieser nimmt Dänemark den ersten Platz ein (sieben Seiten, verglichen mit Schwedens und Norwegens je zwei Seiten). Dagegen ist Sekundärliteratur nicht-nordischer Herkunft nur sparsam verwendet. Der Leser findet sie, zusammen mit dem Quellenverzeichnis, am Schluss der Einleitung, wo sie auf einer halben Seite Platz findet (27). Im Gegensatz zu dem skandinavischen Verzeichnis vermisst man hier Seitenangaben zu den Zeitschriftenartikeln sowie den Briefband der Weimarausgabe, aus dem Kjærgård in der Einleitung den einschlägigen Lutherbrief entnommen hat (s. u.).
Das Projekt gliederte sich in sechs Themengruppen mit folgenden Fragestellungen: 1. Verbreitung: Welche Lutherlieder wurden in den nordischen Ländern gesungen? 2. Glaubensauslegung: Was für eine Theologie spiegelt sich in Luthers eigenen Liedern bzw. in den Übersetzungen wider? 3. Gottesdienstliches Leben: Welche Lieder sind mit der Liturgie verknüpft, und wie sind sie angewendet worden? 4. Unterricht: Wie sind die Lieder als pädagogisches Mo­dell in Kirche und Schule angewendet worden? 5. Musik: Welche Rolle haben die Melodien gespielt? 6. Gesellschaft und Kultur: Welche Rolle haben Luthers Lieder außerhalb des kirchlichen Raumes gespielt, in Politik, Volkskultur, Literatur, Kunstmusik usw.? Der Aspektreichtum ist imponierend und kann hier selbstredend nur selektiv bzw. summarisch behandelt werden. Vor allem die musikwissenschaftlichen Partien müssen Fachleuten überlassen bleiben.
Vorangestellt ist eine ausführliche Einleitung (13–41). Dort be­handelt Jørgen Kjærgård (in einer eigenen Übersetzung aus dem Lateinischen ins Dänische) Luthers Brief an Spalatin um den Jahreswechsel 1523/24, in dem er seinen Plan beschreibt, dem Beispiel von Propheten und Kirchenvätern folgend deutsche Kirchenlieder für das einfache Volk bereitzustellen, »damit Gottes Wort auch im Gesang unter dem Volk bleibt«. – Bernice Sundkvist: » Er hilft uns frei aus aller Not – Teologi och kommunikation i Luthers psalmer« (19–27) schreibt über die Rolle des lutherschen Gemeindeliedes im Gottesdienst, dass kollektive Verkündigung und Lobgesang als Praxis des allgemeinen Priestertums gesehen werden. Die Lieder sollten nicht nur im Gottesdienst, sondern auch zu Hause gesungen werden, mitten im oft so bedrohten Leben. – Nils Holger Petersen sieht Luthers Gemeindeliedreform im Rahmen des spätmittelalterlichen Gottesdienstes und betont Luthers Liebe zur Musik der lateinischen Messe und dem Schatz an volkstümlichen religiösen Liedern, an den Luther anknüpfen konnte.
Luther hat insgesamt 45 Kirchenlieder geschrieben bzw. aus dem Lateinischen Psalter übersetzt (aufgelistet in der Introduktion von Selander/Hansson nach Markus Jenny im Ergänzungsband zu WA 35 [Archiv zur WA, Bd. 4], 18). Sie werden traditionell eingeteilt in: Lieder zum Kirchenjahr, katechetische Lieder, liturgische Lieder und »übrige«. Unter Letzteren sind viele situationsbezogene. Vor allem bekannt sind heute noch das Weihnachtslied »Vom Himmel hoch« sowie »Ein feste Burg«, das eine Sonderstellung einnimmt und als das »Paradelied« des Projekts bezeichnet wird. Die Anzahl der Lutherlieder, die heute noch in Skandinavien in den offiziellen Kirchengesangbüchern enthalten sind, variiert: In Dänemark: 20, Norwegen: 23, Schweden: 17 (auf S. 722: 16, stimmt nicht mit dem Exemplar der Rezensentin überein], Island: 15, Finnland: a. Finnisch: 20, b. Schwedisch: 19). Allerdings lässt ihre Übersetzung oft zu wünschen übrig.
Im Rahmen des Projekts wurden eine große Anzahl der noch in den Gottesdiensten der letzten 50 Jahre verwendeten Lutherlieder untersucht. Ihr Gebrauch geht zurück. In Schweden hat er sich seit der Einführung des neuen Gesangbuches 1986 mehr als halbiert. Diese Beobachtung betrifft ihren tatsächlichen Gebrauch. Eine Zählung der im Gesangbuch 1937 enthaltenen Anzahl ergibt 18 Lieder, gegenüber von 17 Liedern 1986, also kaum einen Unterschied. Eine Tabelle über ihre heutige Stellung in den Schulen Dänemarks, Norwegens und Schwedens, die Selander zusammengestellt hat, zeigt eine deutlich starke Stellung für acht Lutherlieder in Dänemark, während in Schweden und Norwegen nur zwei Lieder vertreten sind: »Ein feste Burg« und »Vom Himmel hoch« (695). Die Katechismuslieder sind heute überall ungebräuchlich geworden. In den Gemeinden sind es vor allem die Weihnachts-, Oster- und Pfingstlieder, die sich erhalten haben; auch in den Freikirchen ist dies der Fall. Besonders in der finnischen Kunstmusik leben die Melodien von Luthers Liedern in moderner Zeit fort, nicht nur in der Kirchenmusik (wie in Maasalos »Weihnachtsoratorium«), sondern auch z. B. in Festkantaten, Opern und nicht zuletzt Filmen: Reijo Pajamo verzeichnet »Vom Himmel hoch« in acht und »Ein feste Burg« in neun Filmen. Vor allem hebt er jedoch die Opern von Kari Tikka hervor (85–90). In dessen Oper »Frieda« ist Luthers »Ein feste Burg« ein zentrales Thema. Durch die Arbeit mit dieser Oper und den Erfolg, den sie hatte, wurde Tikka zu einer Lutheroper inspiriert, in der auch Katharina von Bora und der Teufel wichtige Rollen spielen. Zwischen deren sieben Szenen werden fünf Lutherchoräle gesungen, in die das Publikum einstimmt.
Den Melodien werden, neben ihrer Rolle im Rahmen der übrigen Themengruppen, zwei eigene, musikgeschichtliche Abschnitte gewidmet: Abschnitt 7: »Die Melodien zu Luthers Kirchenliedern in Skandinavien« (451–534), und Abschnitt 8: »Särskilda studier« (= Einzelstudien, 537–598), wo deren Fortleben durch die Jahrhun-derte im Rahmen der jeweiligen Zeitumstände, Kultur und Tradition verglichen wird. Abschnitt 7 schließt mit einem vierseitigen eigenen Literaturverzeichnis, das neben skandinavischer Literatur auch außernordische berücksichtigt. Abschnitt 8 ist reich an No­tenbeispielen. Die abschließende Zusammenfassung hält fest, dass die Lieder trotz zahlreicher Anpassungen ihre Identität und lutherische Aussagekraft bewahrt haben, und dass trotz vieler Un­terschiede noch heute neun Luthermelodien ein gemeinsames kirchenmusikalisches Erbe in den skandinavischen Ländern ausmachen (598).
Auf die besondere Rolle von »Ein feste Burg«, »das Paradelied des Projektes« (Sundkvist, 19), wird im Folgenden näher eingegangen. Es ist in allen behandelten Kirchenliederbüchern vertreten und gilt heute »im Leben der skandinavischen Völker als das Lutherlied vor allen anderen, insofern man heute Luther überhaupt noch kennt« (Hansson, 92). »Ein feste Burg« hatte in der skandinavischen Volkstradition eine identitätsbildende Funktion, deren Bild jedoch in den verschiedenen Ländern unterschiedlich war.

Eine Ausnahme bildete Island, wo es während der Selbständigkeitsbestrebungen von den Dänen mit der Unterdrückermacht verknüpft wurde und ein negatives Lutherbild schuf, was allerdings später korrigiert wurde (92). Abschnitt 2: »›Ein feste Burg‹ som samhällelig och kulturell drivfjäder« (= »›Ein feste Burg‹ als gesellschaftliche und kulturelle Antriebskurbel«, 45–92) behandelt diesen Aspekt. Karl-Johan Hansson schreibt in seiner Einleitung dazu, dieses Lied sei fast zu einer Nationalhymne der gesamten lutherischen Chris­tenheit geworden, die in schweren Zeiten zu Trost und Widerstandskraft inspiriert und deren Melodie als »Signal und Fanfare« gedient habe, wobei »der alt’ böse Feind« je der Tageslage entsprechend identifiziert wurde. Eine skandinavische Untersuchung von 2001 zeige dagegen eine Distanz heutiger Menschen zu dessen Inhalt, der als düster und inaktuell empfunden werde.

Am stärksten lebe das Lied heute in Finnland. Mit der Überschrift »Tröst i kris och pomp vid fest i Finland« fasst Hanna Vapaavuori die dortige Funktion seit dem 30-Jährigen Krieg zusammen: Es wird als »Kampflied« aufgefasst, dessen starke Stellung im Zweiten Weltkrieg von den Militärgeistlichen bezeugt wird und das noch heute zum festen Bestandteil von patriotischen und militärischen Ge­denktagen gehört. Die imponierende Liste finnischer Sekundärliteratur (60 f.) bezeugt die starke Position (vgl. auch die moderne finnische Oper, die in anderen Ländern nicht ihresgleichen hat). – Für Norwegen schildert Aage Haavik eine Episode aus der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg: »Antinazistisk markering utenfor Nidarosdomen 1942« (62–67), wo die Gemeinde von ihrem Gottesdienst aus dem Dom ausgesperrt worden war und mit »Ein feste Burg« eindrücklich dagegen demonstrierte, und wo kein Zweifel daran herrschen konnte, wer mit dem »alt’ bösen Feind« gemeint war.

Einen plastischen geschichtlichen Rückblick gibt Vagner Lund: »Et dansk perspektiv« (68–70): Jahrhundertelang war der politische Feind der Nachbar im Süden, was jedoch nicht hinderte, dass dies »deutsche« Kirchenlied sowohl als »Kampflied« und Waffe gegen eine erdrückende Übermacht als auch als Protest- und Trostlied in kritischen Situationen einen hervorragenden Platz im Bewusstsein des dänischen Volkes eingenommen und nicht selten zu einer Lösung beigetragen hat, was mit beeindruckenden Beispielen illustriert wird .– Die oben bereits genannte Ausnahmestellung Islands beschreibt Einar Sigurbjörnsson: »Negativ Lutherbild genom isländsk självständighetskamp« (71–73). Doch schätze man die Melodie.
Für Schweden verzeichnet Per Olof Nisser eine negative Entwicklung (74–84). Nisser stellt summarisch fest, dass »Ein feste Burg« von 1939 bis 1945 fast den Status einer zweiten Nationalhymne hatte, bei Feldgottesdiensten regelmäßig, danach noch bei nationalen Feiertagen selbstverständlich war, in den nachfolgenden Jahrzehnten jedoch mehr und mehr unzeitgemäß wurde. Er konzentriert sich danach auf die beiden verschiedenen Übersetzungen bzw. Bearbeitungen im heutigen schwedischen Kirchengesangbuch von 1986: neben der herkömmlichen von Johan Olof Wallin (Nr.237; »Vår Gud är oss en väldig borg«) die Neubearbeitung von Olov Hartman von 1977 (Nr. 477: »Vårt fäste i all nöd är Gud«), in der u. a. das Bild der Burg durch »Wüstendickicht« ersetzt ist. – Die beiden Übersetzungen werden aus literarischem Aspekt im 3. Abschnitt unter »Litterär och idéhistorisk kontext« von Cecilia Cervin behandelt (192–197). Hier, wie an anderen Stellen, wo Überlappungen vorkommen, wären Querverweise im Buch hilfreich gewesen. Nach Nisser ist das herkömmliche Lutherlied zwar nicht tot, »aber es wäre übertrieben, zu sagen, es lebe noch« (79). Und Hartmans Umdichtung, in der Luthers kriegerische Bildwelt völlig aufgegeben ist und statt des siegreichen Christus der leidende Heiland im Zentrum steht, in der die tröstende Gewissheit: »Das Reich muß uns doch bleiben« ersetzt ist durch das weit schwächere: »Der Glaube an sein Kreuz / wird uns überleben / die Welt überwinden«, sei an sich »ein starkes Kirchenlied«, jedoch zu schwer zugänglich und zu exklusiv, um in dem Maße »volkstümlich« zu werden, wie es »Ein feste Burg« einst war (83). In der Schlusszusammenfassung von Hansson/Selander wird die Frage gestellt (jedoch nicht beantwortet!), ob man diese neue Bearbeitung noch ein Lied »von Luther« nennen könne (725). – Die Rezensentin möchte dies verneinen: Es handelt sich um eine Umdichtung, die mehr Hartmans als Luthers Charakter trägt. Übersetzungen ins Finnische, u. a. durch Runeberg und Lönnrot, behandelt Bernice Sundkvist im 3. Abschnitt unter literatur- und geistesgeschichtlichem Aspekt: »›Ein feste Burg‹ i finländska psalmböcker«, 177–182. Sie findet eine Bewahrung der theologischen Hauptgedanken Luthers bei gleichzeitiger Abschwächung der Schilderung vom Kampf und vom Bösen.


»Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«: Bei den Liedern Martin Luthers handelt es sich um ein reiches gemeinsames Kul­tur­erbe von hoher Relevanz in der deutschen und skandinavischen Geschichte der letzten 500 Jahre, dessen Vitalität mit den Zeitläuften Wandlungen durchmacht und von Volk zu Volk unterschiedlich adaptiert und internalisiert worden ist. Selander/Hansson charakterisieren den Rapport als »eine breite Materialbasis, die durch fortgesetzte Forschung in verschiedenen Richtungen weiterentwickelt werden kann« (14). Die oben gebotene Übersicht sollte als Anregung dienen. Für interdisziplinäre historische Rezeptionsforschung und Kulturgeschichte vielfältiger Art liegt hier eine Fundgrube und noch eine dankbare Aufgabe vor.