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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

826–828

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

MacCulloch, Diarmaid

Titel/Untertitel:

Die Reformation 1490–1700. Aus d. Engl. übers. v. H. Voß-Becher, K. Binder u. B. Leineweber.

Verlag:

München: Deutsche Verlags-Anstalt 2008. 1022 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-421-05950-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Dieses Buch ist ein gesamteuropäisches Ereignis: Nachdem die monumentale Reformationsgeschichte des an der Universität Ox­ford lehrenden Historikers Diarmaid MacCulloch 2003 in eng­lischer Originalausgabe erschienen war, liegt nun neben einer niederländischen, italienischen und ungarischen auch eine deutsche Ausgabe vor.
Der im Titel annoncierte zeitliche Zuschnitt ist ungewöhnlich: Für den Vf. erstreckt sich die Reformation auf die zwei Jahrhunderte zwischen 1490 und 1700, also auf denjenigen Geschichtsraum, der in den gängigen Darstellungen der Kirchengeschichte als die Periode der Reformation sowie des Konfessionellen Zeitalters be­zeichnet und abgehandelt zu werden pflegt. Verständlich wird diese Entscheidung aus dem – in der deutschen Ausgabe merkwürdigerweise getilgten – Untertitel des Buches: »Europe’s House Di­vided«. Der Vf. will einen Bogen schlagen vom spätmittelalterlichen Vorabend der Reformation bis zum Abschluss der politisch zementierten konfessionellen Zersplitterung Europas. Allerdings besitzt das Stichjahr 1700 dabei nur einen symbolischen Wert, der überdies allein in der Darstellung der in die Glorious Revolution (1688) mündenden englischen Reformationsgeschichte annähernd er­reicht wird.
Den Ausdruck »Reformation« versteht der Vf. als Inbegriff aller religiösen Erneuerungsbewegungen jener Zeit unter ausdrück­licher (in der Durchführung allerdings terminologisch nicht im-mer umgesetzter) Einbeziehung des tridentinischen Reformkatholizismus. Gegenüber all den sozial-, mentalitäts- und milieugeschichtlichen Experimenten der letzten Jahrzehnte stellt sich der Vf. dezidiert in die Tradition der guten, alten, viel verleumdeten Geistesgeschichte: »Entscheidend waren die Ideen«. Und da sich »die Ideen mit dem größten Störpotential ... in der Bibel selbst [fanden]« (18), sieht sich das Publikum sogleich mit dem wohlmeinenden Rat bedacht, während der Lektüre eine Bibel bei der Hand zu haben oder sich zumindest deren Aufbau zu vergegenwärtigen.
Dieses Buch, das man schon jetzt getrost als epochal ansprechen mag, bietet nicht weniger als das fulminant porträtierte Panorama der mittel- und westeuropäischen Geschichte des 16. und 17. Jh.s. Es ist, in kaum auszuschöpfender Weise, gegenstands- und gedankenreich, dazu fesselnd geschrieben, und weiß zwischen Gelehrsamkeit und Allgemeinverständlichkeit jederzeit wohltuende Balance zu bewahren.
Der erste von insgesamt drei Hauptteilen beschreibt »Eine ge­meinsame Kultur« (25–417). Nach einer Bestandsaufnahme der spätmittelalterlichen Kirche und Frömmigkeit vergegenwärtigt er die wichtigsten politischen, technischen, geistigen und religiösen Innovationsfaktoren des ausgehenden 15. Jh.s, die allesamt, ob in Gestalt von Türkenbedrohung, Buchdruck, Humanismus oder Gravamina-Bewegung, reformatorische Ermöglichungspotentiale bereitstellten. Dann werden, in angemessener Proportionalität, die reformatorischen Aufbrüche in Europa, die katholischen und namentlich tridentinischen Reformbestrebungen sowie die aus diesem Antagonismus genährten konfessions- und staatspolitischen Konflikte facettenreich vorgeführt, die der Vf. allesamt, von Luthers Publikation der 95 Ablassthesen (1517) bis zur blutigen Bartholomäusnacht (1572), als einen Ausdruck des Ringens um die noch mögliche kirchliche Einheit versteht.
Der zweite Hauptteil rekonstruiert dann Vollzug und Abschluss der nun nicht mehr abzuwendenden konfessionellen »Teilung Europas« (419–709). Während sich der Protestantismus im Norden und der Katholizismus im Süden Europas uneinnehmbare Hochburgen errichteten, blieb das Christentum in Mitteleuropa bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges eine von Lutheranern, Reformierten und Katholiken »umkämpfte Religion« (581). In besonderer Meis­terschaft schildert der Vf. schließlich die britische, in den Ausblick auf »amerikanische Anfänge« mündende (Kirchen-)Geschichte des 17. Jh.s (655–708).
Der dritte Hauptteil ergänzt die bisher chronologisch verfahrende Darstellung um eine topische, unter sozial- und geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten durchgeführte Erkundung der reformationszeitlichen Lebens- und Erfahrungswelten (711–906). Dabei kommen, jeweils in konfessionskultureller Differenzierung, Hexenwahn und Magie ebenso in den gelehrten Blick wie Lebensdurst und Todesangst, Sodomie und Zölibat, »Liebe und Sex«. Ein leider nur noch sehr grobmaschig gestricktes Schlusskapitel erörtert am Ende die »Folgen« der Reformation (857–906): die verheerenden Schäden der europäischen Religionskriege, die beharrenden Gegenströmungen von Humanismus, Naturphilosophie, Judentum und Agnostizismus, schließlich, als »den be­deutsamsten Beitrag der beiden Reformationsjahrhunderte zum Christentum« (867), die Ausbildung und Normierung des Toleranzgedankens.
Die wissenschaftstheoretische Selbstkontrolle des Vf.s erscheint auf liebenswürdige Weise naiv. Weil der Vf. dessen gewiss ist, dass eine positionell gebundene Geschichtsschreibung notwendig zu perspektivischen Verzerrungen führt, beteuert er seine eigene, unbedingte Neutralität: »Ich persönlich billige heute kein wie auch immer geartetes religiöses Dogma« (21). Überdies versieht er Jahreszahlen mit der religionsneutralen Bestimmung »u[nserer] Z[eitrechnung]« und bittet seine nichtchristlichen Leser dafür um Verständnis, dass er die Hebräische Bibel im Allgemeinen als »Altes Testament« bezeichnet (21).
Indessen hat der Vf. bei aller political correctness gleichwohl übersehen, dass seine Darstellung zwei anderen Perspektivbindungen unterliegt. Zum einen dürfte es der durch reformierte Impulse geprägten anglikanischen Tradition, aus der er kommt, geschuldet sein, dass er das vielgestaltige Bild des gesamteuropäischen Protes­tantismus oft nur in reformierter Brechung zu rezipieren vermag. Infolgedessen lässt insbesondere die Darstellung des deutschen und europäischen Luthertums mitsamt der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten ein bisweilen unzureichendes Verständnis für die genuine Spezifik dieser Konfessionsfamilie erkennen, und namentlich bei Luther gelingt es dem explizit ideengeschichtlich arbeitenden Vf. kaum, die theologische Dynamik und institutionelle Umsetzung der »Ideen«, die den Wittenberger Reformator bewegten, anschaulich und nachvollziehbar zu machen.
Zum anderen ist auch die der Darstellung zu Grunde liegende Quellen- und Literaturkenntnis angelsächsisch perspektiviert. Ausdrücklich räumt der Vf. ein, es sei das Ziel seines Buches, die in dem von ihm mitherausgegebenen »Journal of Ecclesiastical History« publizierten »Forschungsergebnisse einer breiteren Leserschaft zu­gänglich zu machen« (21). So vorzüglich darum die Teile zur britischen Reformationsgeschichte fundiert sind, so dürftig erscheint andererseits mitunter die Schilderung der lutherischen Re­forma­tion, weil der Vf. den Stand der deutschsprachigen Forschung insgesamt weder aktuell noch repräsentativ berück­sichtigt hat.
Bei einem derart gigantischen Werk sind kleine Versehen, die teilweise auch erst die (grammatisch nicht immer sattelfeste) Übersetzung verschuldet hat, nicht zu vermeiden. Fast geniert sich der Rezensent darauf hinzuweisen, dass beispielsweise »Exsurge Domine« (1520) eine Bannandrohungs- und noch keine Bannbulle war (182), in Marburg 1529 keinesfalls mehrere »Religionsgespräche« (239) und erst recht keine »Eucharistiegespräche« (310) stattfanden oder der Ausdruck »Magdeburger Zenturien« ein Ge­schichtswerk und nicht eine Personengruppe bezeichnet (641 f.).
Es wäre unbillig, dem Vf. derartige Quisquilien, ja selbst das in der Darstellung der englischen und deutschen (übrigens auch spanischen und polnischen) Verhältnisse sichtbar werdende Kompetenzgefälle zum Vorwurf zu machen: Kein einzelner Forscher wird jemals in der Lage sein, sämtliche Felder der europäischen Reformationsgeschichte gleichermaßen tief und von Grund auf bea­ckern zu können. Insofern will auch der angedeutete Aufweis partieller Schwächen nicht als beckmesserischer Tadel an dem stupend gelehrten Vf., umso mehr hingegen als die Betonung der Notwendigkeit verstanden sein, die Bestimmung eines transkulturell tauglichen Reformationsbegriffs und die Erforschung des damit bezeichneten Geschichtsraums künftig viel stärker als bislang üblich im internationalen und interdisziplinären Verbund zu betreiben.
Dafür hat dieses große Werk nun allerdings unhintergehbare Maßstäbe gesetzt. Es ist dem Vf. gelungen, eine höchst imponierende Gesamtschau der im kursächsischen Wittenberg begon­nenen und bald in vielen anderen Orten und Staaten selbständig fortgeführten Reformation zu entwerfen. Gegenüber allen konfessionskirchlichen und landespolitischen Kommissionen, die mit der Vorbereitung des 2017 anstehenden Reformationsjubiläums betraut sind, macht der Vf. eindrücklich klar, dass die Reformation mit dem von ihm vorgelegten Meisterwerk den Status eines gesamteuropäischen Ereignisses durchaus gemeinsam hat.