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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

821–823

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ehmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546).

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 498 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 80. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-579-05371-4.

Rezensent:

Martin Brecht

An Beschäftigungen mit dem Thema »Luther und die Türken« fehlt es eigentlich nicht, wie auch aus dem ausführlichen Forschungsüberblick der als Heidelberger Habilitationsschrift entstandenen Darstellung hervorgeht (20–73). Diese Arbeit übertrifft jedoch schon durch ihren Umfang alles Bisherige auf diesem Gebiet. Dazu fasst sie zielgerichtet neben den Türken und der Bedrohung durch sie Luthers Verhältnis zum Islam in den Blick und entspricht damit einem gerade heute sich verstärkt regenden Interesse. Ihren originellen und fruchtbaren Ansatz gewinnt die Arbeit damit, dass sie sich zunächst (75–190) eingehend einer der spätesten Türkenpublikationen Luthers, nämlich der Verlegung (= Widerlegung) des Alcoran Bruder Richardi von 1542, eine Übersetzung der Confutatio Alcorani des florentinischen Dominikaners Ricoldus de Montecrucis (1300), zuwendet (WA 53, 261–396, hrsg. von Hermann Barge zusammen mit dem erhaltenen und sogar annotierten Handexemplar des Ricoldus aus Luthers Besitz). Zuvor hatte sich Luther anhand eines freilich schlecht übersetzten lateinischen Korans vom Wahrheitsgehalt der Aussagen des Ricoldus und deren Übereinstimmung mit dem Koran überzeugt.
Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis: Die Übersetzung oder besser die publikumswirksame Bearbeitung mit ihren Zusätzen und Kürzungen des seinerseits der Scholastik zuzurechnenden Ricoldus ist als selbständige Schrift Luthers von einigem sachlichem Gewicht anzusprechen, die seine kreative und kritisch-polemische Aneignung der Problematik samt den dadurch ausgelösten Reaktionen dokumentiert. Im Vollzug bringt Luther umfassend Elemente seiner Theologie zur Anwendung und kann der Meinung sein, den Koran und den Glauben Mohameds umfassend widerlegt zu haben. In der Würdigung von Luthers bisher nur wenig beachteter Edition besteht bereits ein erster Erkenntnisgewinn, der auch einen interessanten Blick auf Luthers Rezeption und seine Übersetzungstechnik bietet. Der Vf. verfügt über die nötigen islamkundlichen Kenntnisse, selbst über den Koran hinaus. Die Schrift des Juristen Heinrich Knaust über Mahomet (1542) wird bereits der Wirkungsgeschichte von Luthers Verlegung zugerechnet. Der Stellenwert der Verlegung innerhalb von Luthers Werk wird im Folgenden damit belegt, dass sich dessen wesentliche theologische Argumente in ihr bündeln.
Von der in der Verlegung im Wesentlichen erreichten Endgestalt der Islamkonzeption Luthers wendet sich die Untersuchung deren theologischer und historischer Entwicklung zu, die Luther bis dahin durchlaufen hat. Schon rein quantitativ wird einem dabei bewusst, wie präsent die Türken-Problematik für Luther zeitlebens war, so dass sie in zahlreichen seiner Verlautbarungen jeglicher Art bis hin zu den Briefen und Tischreden sowie in ganz unterschiedlichen Auseinandersetzungen begegnet. Die Häufigkeit wechselt allerdings je nach bestehender Aktualität. Die Di­mension des Themas ist somit jedenfalls erheblich größer, als zumeist angenommen wird. Die wohl auch infolge des nunmehrigen Vorliegens der Werk-Register mögliche Perfektion der Erfassung des Materials droht freilich auf die Länge auch zu ermüden und hätte sich straffen lassen.
Bereits seit den frühen bußtheologischen Auseinandersetzungen Luthers kamen im Zusammenhang mit der abgelehnten Kreuzzugsidee und der Ablassfrage die Türken vor, weil er den derart mit religiösen Mitteln betriebenen Kampf gegen sie für unangebracht hielt und dadurch in Verruf geriet. Von den 20er Jahren an musste die nicht mehr abzuweisende militärische Bekämpfung der vordringenden Türken theologisch korrekt innerhalb der Zwei-Reiche- und der Drei-Stände-Lehre bearbeitet werden, damit es nicht zu falschen Vermischungen kam. In der Folge entstand die erste selbständige Türkenschrift Vom Krieg widder die Türcken (1529). Ausdrücklich nimmt der Vf. Luther gegen moderne Vorwürfe (Defätismus) und Missverständnisse in Schutz, wie sie die Profanhistoriker Hans Joachim Kissling (1964), Josef Engel (1971) und Winfried Schulze (1990) vorgebracht haben. Unschärfen und Überspitzungen bei Luther werden allerdings eingeräumt. In den 30er Jahren wird für Luther die durch die aktuelle Bedrohung sowie durch die Schriftauslegungen (Daniel, Hesekiel 38 f. und Johannes-Offenbarung) begründete eschatologisch-apokalyptische Deutung von Türken und Islam neben der geschichtlichen Erfahrung be­stimmend. Die Verbindung von Schriftauslegung und Ge­schichts­deutung wird hier besonders evident. Der Antichrist wird dabei jedoch nicht mit den der Welt zugerechneten Türken, sondern mit dem Papst identifiziert, wenngleich die Türken als endzeitliche Feinde Christi gelten. Aber in der Heerpredigt wider den Türken (1529) kommt Luther einer Befürwortung des Religionskrieges und damit einer Tangierung der Zwei-Reiche-Lehre einmal recht nahe. Die von Reinhard Klockow (1989) behauptete Übernahme des von Georg von Ungarn verfassten Tractatus de moribus ... Turcorum (1480/81) durch Luther wird auf eine Information über die Polygamie reduziert. Immerhin hat Luther 1530 den Tractatus seinerseits herausgegeben (vgl. WA 30/II, 198–208). Die Predigten zu Mariä Heimsuchung veranlassten Luther immer wieder, sich ge­gen die Vereinnahmung Marias in die Türkenabwehr auszusprechen. In den späteren Jahren werden neben den Papisten auch die Türken wegen ihrer Annahme eines unmittelbaren Zugangs zu Gott in den Sammelvorwurf der Schwärmerei einbezogen. Der Sache nach geht es hier um die Bestreitung der Inkarnation oder allgemeiner um die der Christologie. Schließlich weist die Darstellung immer wieder auf die von Luther mit der natürlichen Vernunft begründeten Urteile über Türken und Islam hin. Erwähnenswert ist noch das unerwartet reichliche Vorkommen der gesamten Türken-Thematik in den Predigten über Joh 1–4 (1537–1540), die geradezu zu einer apologetischen Theologie geraten.
Das weitere und schon wegen der anhaltenden Aktualität der Bedrohung immer noch reichliche einschlägige Quellenmaterial der Jahre 1540–1546 wird auch vom Vf. unter Luthers »letzte Kämpfe« eingeordnet. Dazu gehört die eindringliche Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541 und 1543). Das Gefühl endzeitlicher Bedrohung und die Forderung nach Buße werden hierbei verbunden. Eigens wird das sich gegen Papst und Türken wendende Lied Erhalt uns Herr bei deinem Wort (1542) behandelt. Hier ordnet sich nunmehr genetisch auch die Abfassung der Verlegung ein. Über eine authentische Korankenntnis Luthers lässt sich dabei wohl nicht mehr völlige Klarheit gewinnen. 1543 setzte sich Luther dann zusammen mit Melanchthon für die Basler Koranausgabe Theodor Biblianders ein. Als ein durchgängiges Motiv wird Luthers moralische Qualifizierung der Türken als Epikureer herausgearbeitet. Insgesamt ist somit die Abfolge der theologischen Aspekte auf die Problematik sowie deren sich durchhaltende Kontinuität bei Luther genetisch und systematisch überzeugend vorgeführt und kann als Gesamtergebnis griffig festgehalten werden. Die Wissenschaft hat dem Vf. für einen bisher so nicht verfügbaren umfassenden Kommentar zum Thema zu danken, der zudem einen beachtlichen Beitrag zu einer Theologie Luthers bietet.