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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

784–786

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Chilton, Bruce

Titel/Untertitel:

Abraham’s Curse. The Roots of Violence in Judaism, Christianity, and Islam.

Verlag:

New York: Doubleday 2008. 259 S. gr.8°. Geb. US$ 24,95. ISBN 978-0-385-52027-0.

Rezensent:

Martin Bauschke

Abraham hat Konjunktur. Seit 15 Jahren machen immer mehr Bücher einen Halbnomaden, der im Vorderen Orient vor 4000 Jahren gelebt haben soll, zum Thema. Selbst in die Titelgeschichten namhafter Zeitschriften und Magazine findet der Erzvater Eingang. Wer sich eingehend mit Abraham im Wandel der Zeiten beschäftigt, macht eine interessante Entdeckung: »Den« Abraham gibt es nicht! Weder »den« jüdischen Avraham oder »den« christlichen Abraham noch »den« islamischen Ibrahim. Vielmehr finden wir sehr verschiedene Bilder des Erzvaters nicht nur im Vergleich zwischen diesen drei Religionen, sondern auch innerhalb derselben. Wer Abraham war, ist historisch nicht zu klären, seine Existenz nicht einmal zu beweisen. Was Abraham hingegen zu bestimmten Zeiten für einzelne Gruppen theologisch bedeutet, lässt sich fassen. Abraham ist für sie alle in je eigener Weise eine ideale Projektions- und Identifikationsfigur. Und damit sind wir beim Thema, bei dem Dilemma, um das es in diesem Buch geht.
Es bietet sich den Gläubigen nämlich ein sehr ambivalentes Abraham-Bild in ihren Überlieferungen dar. Das wird am deut­lichs­ten sichtbar bei der allseits bekannten Opfergeschichte. Man kann sie sozusagen verstehen und gebrauchen als Absage an Kin­desopfer und Selbstaufopferung – das wäre der potentielle »Segen Abrahams« für die Gläubigen. Oder man kann diese Erzählung missverstehen und missbrauchen als Legitimation und Verherrlichung von Menschenopfern und Märtyrertum – das ist der sehr reelle »Fluch Abrahams«. Beide Optionen, sich Abraham zum Vorbild zu nehmen und »im Namen Abrahams« zu agieren, finden sich in allen drei Reli­gionen. Abraham kann kostbar sein für den Glauben, aber auch furchtbar.
Bruce Chilton, anglikanischer Professor für Neues Testament und Experte für die Frühgeschichte des Christentums sowie für das Judentum, hat sich als Autor in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht mit »Biographien« über zentrale biblische Gestalten: von »Rabbi Jesus« (2000) über »Rabbi Paulus« (2004) bis hin zu »Maria Magdalena« (2005). Nun also Abraham. Warum, beschreibt Ch. ausführlich im Vorwort. 1998 wurde einer seiner Studentinnen die Kehle durchschnitten. Er war bei der Sterbenden, draußen neben seiner Kirche auf der Straße liegend. So wurde ihm eine Erzählung aus fernen Zeiten, die ihn bislang lediglich intellektuell beschäftigt hatte, zu einer existentiellen Begegnung mit einem menschlichen Atavismus. Ch.s »Déjà vu« war ein ungeschminkter Blick in den Abgrund, in die Quelle der Gewalt: »To confront the Aqedah involves confronting a source of violence within our societies, and ourselves, which remains a powerful anthropological force in the West« (10). Aller historisch-kritischen Bibelauslegung zum Trotz, jenseits des Widerspruchs von Aufklärern und Atheis­ten gegen das unmoralische und grausame Gottesbild dieser Ab­raham-Erzählung, angesichts von Fundamentalismen und Mi­li­tarismen aller Art in unserer Zeit ist die Erkenntnis so unaus­weichlich wie erschreckend: »Whether from a secular or a religious perspective, we live in an age of sacrifice« (12).
In drei Teilen, untergliedert in insgesamt acht Kapitel, legt Ch. die Wurzeln der Gewalt in den drei »Abrahamic religions« frei. Entsprechend der Vielfalt der Abraham-Bilder verwundert es nicht, dass es auch nicht nur »die eine« Erzählung von der Opferung des Sohnes in Gen 22 gibt. Vielmehr gibt es zahllose Varianten, Lesarten, Interpretationen und relectures des Motivs von der Opferung des Sohnes innerhalb jeder der drei Religionen, bis auf den heutigen Tag.
Diese bekannteste aller Abraham-Geschichten ist noch immer nicht zu Ende erzählt. Wir können mit ihr nie »fertig« werden. Der erste Hauptteil (»The Test«, 15–68) geht den Erzählvarianten der »Bindung (hebr. aqedah) Isaaks« im Judentum nach. Ch. zeigt, dass das Märtyrertum »im Namen Abrahams«, dass die Selbstopferung nach dem Vorbild Isaaks in Situationen äußerster Bedrängnis eine jüdische Erfindung war. Sie geht auf die Makkabäer-Bewegung zurück. Nicht zufällig finden sich in diesem Um­feld auch relectures von Gen 22, denen zufolge kein Engel Abraham in den Arm fällt. Isaak wird tatsächlich von Abraham ge­schlachtet und zu Asche verbrannt, später aber von Gott wieder auferweckt. Funktion und Projektionscharakter solcher Lesarten in Zeiten Heiliger Jüdischer Kriege liegen offen zutage.
Im zweiten Teil (»Blood of the Lamb«, 69–140) beschreibt Ch. die christologische relecture der Opfergeschichte, die aus dieser ein göttliches Drama macht. Das Opfer, das Abraham an Isaak beinahe vollzieht, vollendet Gott an seinem Sohn Jesus auf Golgatha zum Heil der Welt, zur Sühne der Sünden und als Vorbild für die Gläubigen. Gab es im Judentum immer auch Zweifel daran, ob hinter dem Opferbefehl nicht der Satan stecken könnte, ist im Christentum dieser Zweifel ein für alle Mal ausgeräumt. Gott fordert die Opferung Isaaks (beinahe) und die Opferung seines Sohnes (tatsächlich). So wurde vor allem auf der Basis des Hebräerbriefes aus dem Christentum eine regelrechte Märtyrerreligion. Im Judentum war die Selbstopferung eher eine Ausnahme, im Christentum wurde sie allen Gläubigen als Nachahmern Christi zur Regel, zur Norm. »Christianity’s turn to martyrdom as a principal expression of its identity« (99) dokumentiert der bis heute lebendige Heiligenkult als Märtyrerkult.
Relativ kurz und weniger detailreich fällt im dritten Teil (»Tak­ing Leave of Moriah«, 141–224) der Beitrag über den Islam aus (Kapitel 6). Eindrücklich macht eine zeitgenössische Predigt deutlich, welcher Kampf (arab. jihad) auf dem Weg zur Opferstätte in Ibrahims Herzen tobte: »Within him, there must have been a war, the greatest jihad. Which war? The war between Allah and Isma’il! The difficulty of choice! Which should Ibrahim choose? Love of Allah or love of self? Prophethood or fatherhood? Loyalty to Allah or loyalty to family? Faith or emotion? Truth or falsehood? Conscience or instinct? Responsibility or pleasure? Duty or right? ... The choice of Ibrahim was sacrifice. That of Isma’il was self-sacrifice, martyrdom« (144 f.).
Keine Frage, dass sich Muslime zu allen Zeiten als Nachahmer Abrahams und Isaaks (in frühislamischer Zeit) und später dann Ismaels zur aufopferungsvollen Hingabe an Gott allein aufgerufen sahen, wie etwa das Testament des Attentäters von 9/11 Muhammad Atta zeigt. So prallen die drei Religionen je im Namen Gottes und nach dem Vorbild Abrahams aufeinander zur »Bluternte« ihrer Märtyrer (171 ff.). Abraham, der mutmaßlich auf Gottes Geheiß hin seinen Sohn schlachten will, hat sich als ein Fluch erwiesen. Abraham, der mit seinem lebenden Sohn den Opferberg hinter sich lässt, kann zum Segen für die Religionen werden. Solches Zurück­lassen ihrer Märtyrerideologie ist für alle drei Religionen ein möglicher, aber wahrlich ein schwieriger und »langer Abstieg« (196 ff.). Einen anderen Weg gibt es nicht: »we have no human future if we insist on remaining on Mount Moriah« (224).
»Abraham’s Curse« ist gut lesbar, alle Anmerkungen sind in den Anhang verwiesen. Es gibt einen ausführlichen Index mit Namen und Begriffen. Was fehlt, ist ein Literaturverzeichnis. Ch.s Darstellung ist wichtig, da sie uns zeigt, dass die Berufung auf Abraham im Dialog der Religionen nicht naiv werden darf. Gerade die desas­tröse Wirkungsgeschichte der Opfererzählung zeigt, dass der Erzvater nicht einfach den »kostbarste[n] Schatz unserer gemeinsamen Religionsgeschichte« (Karl-Josef Kuschel) darstellt, sondern zu­gleich ein furchtbares Vorbild unheiliger Krieger und Märtyrer in allen drei Religionen geworden ist.