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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

761–762

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Szagun, Anna-Katharina u. Fiedler, Michael

Titel/Untertitel:

Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen.

Verlag:

Jena: IKS Garamond, Edition Paideia 2008. 557 S. u. Beiheft m. zahlr. Abb. 8° = Kinder Erleben Theologie, 2. Geb. EUR 34,80. ISBN 978-3-938203-61-3.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Diese zweite »Rostocker Langzeitstudie« ähnelt in der Anlage der ersten (Szagun 2006, besprochen in ThLZ 132 [2007], 1027) und weist ähnliche Vorzüge auf. Auch sie beschäftigt sich »mit der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die im mehrheitlich konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands heranwachsen« (7). Ge­gliedert ist der Band in die drei von Szagun verfassten Teile: »1 Einleitung«, »2 Einzelfallstudien« und »3 Bündelnde Ergebnisse zu ausgewählten Aspekten«. Angefügt ist ein vierter Teil von Fiedler: »Grundlagen für einen religiösen Dialog in Ostdeutschland – Begriff und Wirklichkeit von Religiosität«.
Szagun berichtet über neun Aufwachsende, die sie über sechs bis acht Jahre hinweg begleitet hat. Sie will aber nicht nur Einzelverläufe detailliert darstellen, sondern sie auch wieder »in Hinblick auf überindividuelle Zusammenhänge« bündeln und die Wirkung von Religionsunterricht erheben. Sie setzt voraus, dass Kinder in Bildern denken, und arbeitet deshalb überwiegend mit »Visualisierungen« und Gesprächen darüber: »Materialcollagen«, »Lebensweltzeichnung«, »Schnipselcollage«, »Fotocollage«, Malen der eigenen »Familie in Tieren« und von »Fantasiereisen« in die »Höhle des Herzens«, »Positionierungen« von »Knetfiguren« usw. Die wiederkehrenden Gesprächskontakte verändern nicht nur die Probanden, sondern auch die Forscherin. »Die forschende und zugleich seelsorgerlich akzentuierte Begleitung erfordert neben einfühlender Hinwendung zum Heranwachsenden eine grundsätzliche Achtung seiner Andersheit und Unbegreiflichkeit.« (22) Er ist nicht nur »›Wild‹ der ›Erkenntnisjagd‹«. Szagun ist kritisch gegenüber Stufenmodellen mit den verbreiteten Annahmen, Kinder könnten Gott nur anthropomorph denken, seien »zu mehrperspektivischem Denken« wenig in der Lage und tendierten »generell zu Finalismus und Artifizialismus« (27).
Die sechs ähnlich aufgebauten Einzelstudien lassen sich hier nicht auf engem Raum wiedergeben. Um einen Eindruck von ihrer Reichhaltigkeit zu vermitteln, sei die Studie über die beiden Schwes­tern Liane und Petra (141–205) präsentiert, die altersmäßig 17 Monate auseinanderliegen.
Sie leben bei ihrer geschiedenen Mutter, »einer Lehrerin, die sich als religiös interessierte Atheistin versteht«. Beide Mädchen besuchten den katholischen Kindergarten, Liane verbrachte drei Jahre in einer katholischen Grundschule, »Petra sang Kl. 3 und 4 in einer (ev.) Kantorei mit und nahm in den vier Grundschuljahren am einstündigen religionskundlich akzentuierten (ev.) Religionsuntericht teil.« Szagun beginnt mit der Erstklässlerin Petra und der Drittklässlerin Liane. Sie lässt die Kinder Materialcollagen zusammenstellen, Bilder malen, Figuren kneten und positionieren, dann kommentieren, um schließlich ihrerseits die teils wörtlich wiedergegebenen, teils in indirekter Rede zu­sammengefassten Äußerungen der Kinder zu interpretieren. Als weitere Un­tersuchungsinstrumente setzt sie »semantische Differentiale« (siebenstellige Skala beispielsweise zwischen Gott ist »gleichgültig« – »fürsorglich«) und vorformulierte Sätze (z. B.: »Gott belohnt die Guten und bestraft die Bösen.«) ein, zu denen die Kinder sich zwischen »stimme zu«, »bin unsicher« und »den Satz lehne ich ab, weil« entscheiden können. Mit Hilfe der Ergebnisse in aufeinanderfolgenden Jahren kann Szagun sowohl Entwicklungen jedes Kindes für sich erkennen als auch die Kinder miteinander vergleichen. Inhaltlich werden »Gottesmetapher«, »Lebenswelt«, »Sicht auf das Verhältnis zu Eltern und Freunden«, »Sicht auf die eigene Person«, »Gebetsverständnis und -praxis«, »Bibel« und »Impulsgeber des religiösen Denkens und Empfindens« (Religionsuntericht, Gemeinde, Oma u. a.) thematisiert. »Im fünften Jahr des Untersuchungszeitraums erfolgte ein Gespräch mit der Mutter.« Sie habe den Vater der Mädchen schon früh kennengelernt, sich aber dann vor dem Schuleintritt der älteren Tochter wegen häuslicher Gewalt von ihm getrennt. Im katholischen Kindergarten und durch den Religionsunterricht seien die Mädchen in Kontakt mit Religion gekommen, aber es »sei ihnen immer auch klar gewesen, dass die Mutter einen von der Kirche unabhängigen Glauben pflege, an eine Kraft in sich und an eine zur Verantwortung rufende innere Stimme glaube und an eine Kraft der Lenkung, eine Kraft des Lebens in der Natur.« Ihre Untersuchungen bilanzierend stellt Szagun fest, die beiden Mädchen hätten vom Kindergartenalter an »intensive religiöse Prägungen gegensätzlicher Art« erfahren. Konfessionelle Einrichtungen seien aus eher pädagogischen Motiven gewählt und »eine Art weltanschaulicher ›Kollateralschaden‹« als kompensierbar angesehen worden. Während der Gespräche hätten die beiden Mädchen zwar ihre Vorstellungen von Gott, Bibel und Gebet, aber »als Zeichen ihrer Loyalität zur Familie« auch immer wieder ihren Unglauben geäußert. Petra habe ihr anfänglich »an­thropomorphes Gottesbild« allmählich modifiziert und lasse durchaus eine »Gottesbeziehung« erkennen. Bei Liane hätten die stark konträren Einwirkungen »ein Schlachtfeld hinterlassen«. Gleichzeitig suche sie »nach religiösem Halt«.
Eine »Thesenartige Bilanz« fasst die Auswertung der Einzelfallstudien zusammen: »Traditionen sind mitten in der Kirche abgebrochen« – »Sprachlosigkeit herrscht bei Bezugspersonen« – »Die Varianz der Gotteskonzepte ist groß« – »Am Anfang steht kein konsis­tentes Gotteskonzept« – »In frühen Bildern findet sich schon Transzendenzbewusstsein« – »Kinder haben schon früh ein Autonomiebewusstsein« – »Die Übergänge zwischen erster Naivität, Symbolkritik und zweiter Naivität sind fließend« – »Kinder können schon früh Metaphern bilden« – »Theistisch-vergegenständlichende Bilder und Sprachformen können blockieren« – »Traditionelle Themen werden ausgeblendet« – »Gottes Heil schaffende Macht erscheint begrenzt« – »Die Theodizeefrage wird nur in Ausnahmefällen gestellt« u. a. Die Annahme, in der religiösen Entwicklung folgten ausnahmslos bestimmte Stufen aufeinander, und »das Bild vom naiven, an gegenständlichen Vorstellungen festklebenden Kind« findet Szagun durch ihre Untersuchungen nicht bestätigt. Aus ihren Befunden leitet sie wichtige religionspädagogische Forderungen ab, z. B.: »Non-theistische Bilder zulassen« – »Die Balance zwischen non-theistischen und personalen Bildern fördern« – »Die Begleitung von Kindern muss daher sowohl deren Lebensthemen als auch ein mit den Veränderungen des Lebens Schritt haltendes Gottesverständnis im Blick haben.« – »Kindern ist theologisch sehr viel mehr zuzutrauen, auch im Umgang mit biblischen Texten. Ihr kreatives (Quer-)Denken und Fragen kann Erwachsenen Anstöße zu eigenen theologischen Klärungen und Neuformulierungen geben.«
Zu wünschen wäre gewesen, dass Szagun Begriffe wie »theistische«, »non-theistische« oder »personale« Gottesbilder wenigstens in wenigen Zeilen erläutert hätte, hervorzuheben ist wieder das methodenbewusste und selbstkritische Vorgehen. Auch in dieser zweiten Studie wirkt es ungemein sympathisch, wie Szagun wissenschaftliches Interesse und einfühlend liebevollen Umgang mit den Kindern verbindet.
Fiedler hebt im vierten Teil des Buches (461–546) die Notwendigkeit eines wenigstens einigermaßen bestimmten Begriffs von ›Religion‹ und ›Religiosität‹ hervor. Er unterscheidet subjekt-, objekt- und phänomenoriertierte Ansätze, setzt sich mit den Versuchen von Autoren wie Luckmann, Luhmann, Oeverman, Tillich, Pollack, Kaufmann, Allport, Rodney Stark auseinander und referiert religionssoziologische und -psychologische Untersuchungen von Pollack, Pickel, Wohlrab-Sahr, Jörns u. a. sowie EKD-Erhebungen und die Shell-Jugendstudie von 2006. Sein eigener Begriff von Religion als »Bezug auf Transzendenz mit der Funktion von lebensweltlich verankerter Kontingenzbewältigung« schließe niemanden »von einem religiösen Dialog« aus. Quantitativ angelegte Untersuchungen bedürften der Ergänzung durch qualitative nach dem Vorbild der beiden Rostocker Studien.