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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1105 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mühlenberg, Ekkehard und J. van Oort [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Predigt in der Alten Kirche

Verlag:

Kampen: Kok Pharos 1994. 134 S. gr. 8°. Kart. DM 67,50. ISBN 90-390-0301-7

Rezensent:

Hans Martin Müller

Daß die Praxis der Predigt der lehrmäßigen homiletischen Reflexion vorausgegangen ist, hat schon Schleiermacher betont. In vielen Fällen mag dies auch für die dogmatische Reflexion gelten. Im Unterschied zur Praktischen Theologie hat die Patristik bisher der Predigtarbeit als solcher aber weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dem Lehrgehalt, der aus der Predigtliteratur erhoben werden konnte. Erst das sozialgeschichtliche Interesse und die vor allem im angelsächsischen Raum lebhafte Beschäftigung mit der antiken Rhetorik rückten auch die Predigtpraxis wieder ins Licht. Das läßt auf Ergebnisse hoffen, die auch der Praktischen Theologie zugute kommen werden.

Ein gutes Beispiel dafür gibt die Herrnhuter Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft vom 2. bis 5. Jan. 1993. Die dort gehaltenen Vorträge sind zusammen mit einem kurzen "Rückblick und Ausblick" der Hgg. im vorliegenden Band veröffentlicht. Wie für eine einzige Arbeitstagung nicht anders möglich, konnten nur einige Hauptgegenstände des Themas zur Sprache kommen: Origenes, Chrysostomus und mehr am Rande Hieronymus als Prediger, die pagane Rhetorik und der liturgische Ort der Predigt als Rahmenbedingungen werden in anregender Weise, wenn natürlich nicht erschöpfend behandelt. Ausführliche Quellenbelege und Hinweise auf wichtige Sekundärliteratur vor allem aus dem englischen und französischen Sprachraum erleichtern dem Nichtfachmann das Eindringen in das Forschungsgebiet.

"Augustins Predigen" untersucht E. Mühlenberg vornehmlich unter theologischen, Chr. Schäublin mit Rückgriffen auf Hieronymus unter rhetorischen Gesichtspunkten. Beiden gelingen überraschend lebendige Analysen der Predigtpraxis und ihrer Bedingungen in der Alten Kirche. Vor allem Mühlenberg legt dar, wie hinter dem bekannten explicatio-applicatio-Schema und aller rhetorischen Kunstfertigkeit die Predigt für Augustin "Instrument von Gottes Wirken" (15) bleibt und nie zur platten Moralpredigt verkommt, weil der Prediger auf Gewissensschärfung und Ewigkeitsglauben zielt. Schäublin hebt mit Hilfe reichen Quellenmaterials hervor, wie der Redner, "dessen Gestalt die ganze klassische Antike fasziniert hatte" (45), im christlichen Prediger fortlebt, der an der Schulrhetorik und in der Auseinandersetzung mit ihr diese "Metamorphose" (ebd.) vollzieht. Während die Geringschätzung der sog. Diatribe durch Schäublin dahingestellt bleiben mag, ist bedauerlich, daß beide die jüdischen Einflüsse vor allem auf die frühchristliche Predigt unberücksichtigt lassen. Vor allem hier hat ja die Textbindung als Spezificum der christlichen Predigt ihre Wurzel. Auch der liturgische Kontext, der in mancherlei Hinsicht für die christliche Predigt bestimmend war, kommt erst im Beitrag von H. G. Thümmel zur Sprache. Seine Leitfragen (wer predigt wann und wo zu wem?) sind so schwerwiegend, daß in diesem Rahmen nur "einige Bemerkungen zum liturgischen Ort der Predigt" (122) vorgetragen werden konnten.

Wichtige Einzelfragen behandeln Eric Junod unter literatur-historischem und Winfried Stoellger unter theologiegeschichtlichem Blickwinkel. Beide können aufzeigen, wie Themen, die auf den ersten Blick dem heutigen Leser wie Quisquilien vorkommen mögen, einen ernsten frömmigkeitsgeschichtlichen und theologischen Grund haben: Die Unterschiede zwischen den Homilien und den Kommentaren des Origenes (Junod) beruhen nicht auf einer divergenten Schriftauslegung, sondern wurzeln in seiner theologisch fundierten Anthropologie. Die gequält wirkenden, langatmigen Ausführungen des Chrysostomos über die davidische Abstammung Marias (Stoellger) dienen letztlich dem auch rhetorisch zu führenden Nachweis, daß "Christus und Jesus eins, der dem David als Nachfahr zugesagte ewige König in dem Menschen Jesus sich verwirklicht hat". (109)

"Für eine Geschichte der Predigt in der Alten Kirche fehlt noch viel", konstatieren die Hgg. am Ende (125). Daß dies kein nebensächliches Desiderat ist, hat ihre Veröffentlichung deutlich gemacht: Die für die christliche Predigt schlechthin konstitutive Dialektik von Wort und Glaube, wie sie Luther an Röm.10, 17 verdeutlicht hat, "sollte den Historiker und Patristiker, zumal die evangelischen unter ihnen, provozieren, die Predigt in der Alten Kirche unter der Frage zu betrachten, ob und wie sie einen solchen Anspruch in sich trägt und ob sie sich durch diese Frage besser erschließt." (124)

Diese Herausforderung läßt sich unter den heutigen methodischen Bedingungen nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit bestehen und führt somit über das engere Forschungsgebiet der Patristik hinaus.