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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

203–205

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Fliethmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Vernünftig glauben. Die Theorie der Theologie bei Georg Hermes.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. 372 S. gr.8 = Bonner Dogmatische Studien, 26. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01910-9.

Rezensent:

Raimund Lachner

Die vorliegende, von der Kath.-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene Dissertation untersucht den philosophisch-theologischen Grundansatz des Münsteraner und späteren Bonner Theologen Georg Hermes (1775-1831).

Hermes gilt als einer der bedeutendsten katholischen Theologen in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. In einer Zeit, da nicht nur einzelne Glaubensinhalte, sondern die Möglichkeit religiösen und speziell christlichen Glaubens überhaupt in Zweifel gezogen wurde, war es sein Grundanliegen, durch rationale Begründung des Glaubens zwischen Vernunft und Glauben zu vermitteln. Dabei stand Hermes unter dem Einfluß der kritischen Philosophie I. Kants und J. G. Fichtes, die er - wie diese Untersuchung zeigt - um des christlichen Glaubens und der Theologie willen selbst immer wieder auch kritisierte. So trifft der gewählte Titel "Vernünftig glauben" Hermes’ Grundanliegen zentral. Dieser Grundansatz war es aber auch, der - bald nach seinem Tod - zur Verurteilung seiner wichtigsten Werke führte. Neben nicht näher bestimmten Auffassungen in der Lehre über Gott, Gnade, Erbsünde und kirchliche Tradition verurteilte das Breve "Dum acerbissimas" aus dem Jahr 1835 (DH 2738-2740) auch die Hermes zugeschriebene Lehre vom positiven Zweifel als der Basis aller theologischen Forschung und die Auffassung, daß die Vernunft die wesentliche Norm und das einzige Mittel sei, mit deren Hilfe der Mensch zur Erkenntnis übernatürlicher Wahrheiten gelangen könne. In dem zusätzlichen Index-Dekret vom Januar 1836 (48 wird irrtümlich das Jahr 1936 genannt!) wurde die Liste der verurteilten Werke Hermes’ bestätigt und erweitert. Noch das Erste Vaticanum wies in seiner Dogmatischen Konstitution "Dei Filius" einzelne dem hermesischen Denksystem zugeschriebene Thesen zum Verhältnis von Glauben und Vernunft zurück (DH 3035-3036). Ähnlich wie später A. Günther und J. Frohschammer, deren philosophisch-theologische Ansätze sich freilich sowohl voneinander als auch von Hermes’ Ansatz unterscheiden, ist Hermes als Semirationalist in die Theologiegeschichte eingegangen; der Begriff des Semirationalismus wurde überhaupt erst im Zuge des Streits um Hermes und den Hermesianismus geprägt.

Die Studie geht der Frage nach, "welchen systematischen Ort die freie Subjektivität in Hermes’ Werk einnimmt" (14). Als ihr Ziel bestimmt der Vf., "durch eine Darstellung, die dem Denken Hermes’ gerecht zu werden sucht, dazu beizutragen, das Bild des semirationalistischen Erzketzers endgültig zu verabschieden und auf die zukunftsträchtigen Ansätze in Hermes’ Denken aufmerksam zu machen. Zugleich sollen aber auch die immanenten Gründe benannt werden, die letztlich für die Fruchtlosigkeit seines Ansatzes verantwortlich sind" (15).

Als Textgrundlage seiner Studie wählt der Vf. in erster Linie Hermes’ Hauptwerk "Einleitung in die christkatholische Theologie. Erster Theil: Philosophische Einleitung" (Münster 1819). Nur ergänzend greift er - wo nötig oder nützlich - auf dessen "Einleitung in die christkatholische Theologie. Zweyter Theil: Positive Einleitung. Erste Abtheilung" (Münster 1829) und auf dessen "Christkatholische Dogmatik" (hrsg. v. J. H. Achterfeldt, 3 Bde., Münster 1834) sowie auf kleinere Schriften Hermes’ zurück. Fast durchgängig vergleicht der Vf. dessen Argumentationen mit jenen Kants, verschiedentlich auch mit jenen Fichtes, um so zu überprüfen, in welchem Maße sich Hermes von deren Philosophie beeinflussen ließ.

Der Vf. gliedert seine Untersuchung in vier Teile: Im ersten Teil (19-84) ortet der Vf. Hermes’ Theologie geistesgeschichtlich im Übergang von der Aufklärung zu Idealismus, Romantik und Restauration und führt in sein Leben und Werk sowie in die bisherige Rezeptions- und Forschungsgeschichte ein. Als Motiv für Hermes’ Grundansatz macht der Vf. den zeitgenössisch drohenden Relevanzverlust der Theologie und des Glaubens insgesamt geltend. In den Teilen II-IV folgt der Vf. im wesentlichen dem Argumentationsgang in der "Philosophischen Einleitung".

Im zweiten Teil (85-152) behandelt er Hermes’ Erkenntnistheorie. Zusammen mit der philosophischen Tradition bestimmt Hermes Wahrheit als "adaequatio intellectus et rei". Wahrheitserkenntnis kommt nach ihm dadurch zustande, daß objektive, in ihrem An-sich bleibend unbekannte Wirklichkeit subjektiv rekonstruiert wird. Als Instrument solcher Rekonstruktion dient die Vernunft. "Fürwahrhalten" als Tätigkeit der theoretischen und "Fürwahrannehmen" als Tätigkeit der praktischen Vernunft sind die zwei Weisen, welche die Übereinstimmung von subjektiver Rekonstruktion und objektiver Wirklichkeit verbürgen. Das Resultat beider bezeichnet Hermes im Anschluß an Fichte als (philosophischen) "Glauben", den er allgemein als "Entschiedenheit über Wahrheit seiner [des Menschen] Urtheile" (Phil. Einleitung, 85) definiert und dem er insofern eine bleibende Bedeutung in bezug auf Wirklichkeitserkenntnis zumißt.

Aufbauend auf diese philosophische Theorie der Wahrheits-erkenntnis behandelt der Vf. im dritten Teil (153-208) Hermes’ Metaphysik, schwerpunktmäßig die philosophische Gotteserkenntnis. Auch die Metaphysik ist eine Aufgabe der Vernunft. Gegen Kant erweist Hermes die Existenz Gottes und seiner Eigenschaften aus der Vernunft. Ausgehend von Kants Kritik der Metaphysik und in Rezeption kantischer Argumente formuliert er seine Lehre vom Endzweck der Schöpfung, als welchen er - zusammen mit Kant - die Glückseligkeit des Menschen bestimmt.

Der vierte Teil (209-299) behandelt das Thema Offenbarung. Entsprechend Hermes’ Grundanliegen einer Vermittlung von Offenbarung und Vernunft bestimmt der Vf. dessen Offenbarungsbegriff als Wirklichkeit "zwischen Positivität und Vernünftigkeit" (209). Den theologiegeschichtlichen Rahmen von Hermes’ Offenbarungstheorie umschreibt der Vf. einmal mit der apologetischen Offenbarungslehre des katholischen Aufklärungstheologen B. Stattler und zum anderen mit den Offenbarungskritiken Kants und Fichtes. Grundsätzlich teilt Hermes den instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff der Theologie seiner Zeit. Dabei versteht er mit Kant und Fichte die Offenbarung als besonderes historisches Introduktionsmittel der Sittlichkeit. In Unterscheidung zwischen natürlicher und übernatürlicher Offenbarung, wobei er unter göttlicher Offenbarung vorzüglich letztere verstehen will, lehrt er sowohl die Möglichkeit Gottes, eine übernatürliche Offenbarung zu wirken, als auch die Fähigkeit des Menschen, eine solche Offenbarung zu empfangen und als göttliche Offenbarung zu erkennen. Zusammenfassend urteilt der Vf. über Hermes’ Offenbarungsdenken, daß dieses im wesentlichen "vorkritisch" ist. "Hermes’ Offenbarungstheologie hat ... sehr viel mehr mit der Demonstratio evangelica Benedict Stattlers gemein als mit den kritischen Entwürfen Kants und Fichtes" (279). Vor diesem Hintergrund geht der Vf. dann auf "Die Wirklichkeit der christlichen Offenbarung und ihr[en] Inhalt" (279-299), also auf Hermes’ Dogmatik ein, um zu zeigen, ob und wie sich dessen Grundansatz in der Dogmatik niederschlägt. Dabei beschränkt sich der Vf. auf die Analyse von Hermes’ Gnadenlehre.

Allgemein attestiert der Vf. Hermes "entschieden weniger ’Kritizismus’ ..., als ihm in der Literatur vorgeworfen worden ist" (310). Die philosophische Defizienz seiner Theorie sieht der Vf. nicht in seiner Rezeption einzelner kantischer und fichtescher Argumente, sondern in deren eigenwilliger Verwendung im eigenen Konzept.

Im Schlußabschnitt (301-350) faßt der Vf. zunächst die Ergebnisse seiner Untersuchung kurz zusammen, um sodann einen Blick auf das "Fortwirken der hermesischen Problemstellung" zu werfen. In diesem Sinn geht er zunächst auf J. H. Newmans Zustimmungslehre ein, um sich sodann heutigen Entwürfen, die sich um den Nachweis der "Rationalität der Theologie in pluralistischem Kontext" (325) bemühen, zuzuwenden; bei allen Unterschieden zu Hermes diagnostiziert der Vf. sowohl bei Newman als auch bei G. A. Lindbeck, bei I. U. Dalferth, aber auch bei P. Clayton eine bemerkenswerte Affinität zu hermesischen Grundfragen.

Mit dieser Studie hat der Vf. einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Theologie des 19. Jh.s im allgemeinen und der Hermes-Forschung im besonderen vorgelegt. Dabei ist es ihm gelungen zu zeigen, daß Fragen, um die Hermes gerungen hat, heute nicht einfach beantwortet sind, sondern mutatis mutandis auch Fragen gegenwärtiger Theologie und Philosophie sind.