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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

750–751

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hettich, Michael

Titel/Untertitel:

Den Glauben im Alltag einüben. Genese und Kriterien der ignatianischen Exerzitien im Alltag.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. 412 S. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 71. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-02948-7.

Rezensent:

Karl-Friedrich Wiggermann

Exerzitien im Alltag werden als wichtige Hilfe für eine geistliche Lebensgestaltung unter den spezifischen Bedingungen des Alltags erkannt und eingeübt. Hier ist es wichtig, Kriterien für eine theologisch verantwortete Praxis darzustellen. Dabei darf es nicht zu einer atemlosen Überaktivität kommen, natürlich auch nicht zu einer rastlosen Müdigkeit.
Der Vf. definiert am Anfang des Buches die kirchliche, vor allem katholische Seelsorge. Ihr Ziel kann – z. B. nach Linus Bopp und Johann Michael Sailer – beschrieben werden »als gewinnende Führung zu Jesus Christus, dem Heil der Welt« (12 f.). Ihr »Quellpunkt und ihr Herzschlag ist das Gebet« (13), das spirituelles Leben gestalten kann. Bei diesen Exerzitien gibt es eine definitive Unklarheit. »Es braucht eine Kriteriologie hinsichtlich des Gehalts und der Gestalt von Exerzitien im Alltag, um zu einer theologisch verantworteten Praxis anzuleiten. Ziel ist eine geistliche Erneuerung einzelner Christen und daraus auch der Gemeinden« (15 f.). Erhellend werden die Geschichte und Theologie der Exerzitien des Alltags sein.
Der erste Hauptteil des Buches untersucht die Ursprünge der Übungen bei Ignatius von Loyola und den ersten Jesuiten. »In der … ignatianischen Maxime des ›Gott finden in allen Dingen‹ gründet das Handlungsprinzip des ›in actione contemplativus‹.« (33) Es darf nicht zu einer subjektivistischen Verengung eigener Erfahrungen und damit Täuschungen bei der Unterscheidung kommen. Der Vf. weist auf die bekannte 18. und 19. Anmerkung zum Exerzitienbuch bzw. auf die »leichten Übungen« und die »offenen Exerzitien« hin und entwickelt ein Ziel zu den Exerzitien im Alltag bei Ignatius. Es kommt innerhalb des Ordens zu Anpassungen an die Personen. Mehr als um theoretische Belehrung geht es bei Ignatius um eine Anleitung, persönlich zu leben und Gott zu erfahren, den Willen Gottes zu entdecken und im konkreten Alltag umzusetzen, damit der Mensch »contemplativus in actione« sein kann. Nach Ignatius gab es eine Krise der Exerzitien nach Exerzitienbuch 18 und 19.
Der zweite Hauptteil geht auf die »Wegbereiter« einer »neuen bzw. wiederbelebten Praxis von Exerzitien im Alltag« (17) zu. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s wurden sie wieder neu entdeckt, vor allem von Gilles Cusson und Maurice Giuliani. Der Vf. untersucht ausführlich deren Konzeptionen sowie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. »Mit der Abnahme der Bedeutung des Vortrags geht die Zunahme des Gewichts der (Einzel-)Begleitung im Exerzitienprozess einher, die bis in die 1960er Jahre so gut wie vergessen war.« (176)
Im dritten Hauptteil nimmt der Vf. die weitere Praxis der Exerzitien im Alltag in den Blick. Wurden zunächst die 19. Anmerkung und damit die »offenen Übungen« wiederentdeckt, spielten später verstärkt die 18. Anmerkung und damit die »leichten Übungen« eine tragende Rolle. Bald kam es zu einer Vermischung in den Exerzitien in der Gemeinschaft. Verbreitet wurden die Exerzitien durch die »Gemeinschaft des Christlichen Lebens«. Dann wurde die Gewissensforschung neu entdeckt, die aus moralischer Engführung herausgeführt worden ist. Willi Lambert prägte die Bezeichnung »Ge­bet der liebenden Aufmerksamkeit«. Die Rolle dieser Übung wird besonders hervorgehoben. Akzentverschiebungen sind auf ihre exerzitientheologische Berechtigung hin befragt. Der Vf. kommt zu einem Ergebnis: »Die Gewissenserforschung bzw. das ›Gebet der liebenden Aufmerksamkeit‹ist die wichtigste Übung – gewissermaßen die Grundübung – der Exerzitien im Alltag.« (359) Am Schluss des Buches werden »Kriterien ignatianischer Exerzitien im Alltag und Optionen für die Gemeindepastoral« (361–371) aufgezeigt. Der Vf. stellt 14 Kriterien auf: »Ignatianische Exerzitien im Alltag haben den Alltag zum Betrachtungsstoff«, »orientieren sich an der Heiligen Schrift«, »üben das Gebet ein«, »zielen auf Entscheidungen«, »tragen zur Unterscheidung der Geister bei«, »setzen Entschie­denheit voraus«, »stehen in der Ambivalenz von Nicht-Unterbrechung und Unterbrechung des Alltags«, »sind begleitete Übungen«, »stehen in der Spannung von Individualität und Kirch­lichkeit«, »sind in einem weiten Sinne katechetisch«, »sind differenziert«, »sind Teil eines umfassenden Angebots, ›den Seelen zu helfen‹«. Das letzte Kriterium lautet: »Geistliche Übungen sowohl nach Exerzitienbuch 19 als auch nach Exerzitienbuch 18 als ›Exerzitien im Alltag‹ zu be­zeichnen ist legitim.« (370) Das sollten Exerzianten wissen.
In einem kleinen Epilog geht der Vf. auf neue Impulse zu. Exerzitien im Alltag sind eine Form von Seelsorge unter spezifischen Bedingungen – zu Zeiten des Ignatius und heute. Impulse können ausgehen auf die »ordentliche Seelsorge«. »Angesichts der aktuellen Nöte und Herausforderungen der Pastoral ist – wie schon zu Zeiten des Ignatius – eine ›Reform von innen‹ im Dienste einer wachsenden ›familiaritas cum Deo in Christo‹ unverzichtbar und muss Priorität haben vor aller ›Reform von außen‹ durch organisatorische Maßnahmen. Darum ist Seelsorge nur Seelsorge, wenn sie vom Gebet getragen wird und ins Gebet führt.« (371)
Die Untersuchung kann Impulse geben auch für die evangelische Gemeindearbeit. Es sind allerdings Hinweise auf liturgische Handlungen hinzuzufügen. Im Anschluss an die Arbeit des Vf.s sind weitere Fragestellungen zu bedenken – im Blick auf des Menschen Zweifel, Aporien und Anfechtungen. Man sollte dem Vf. dankbar sein für die gelungene pastoralhistorische Arbeit. Sie bewahrt vor Illusionen in Theorie und Praxis.