Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

745–748

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Menke, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Jesus ist Gott der Sohn. Denkformen und Brennpunkte der Christologie. Regensburg: Pustet 2008. 586 S. 8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-7917-2115-6.

Rezensent:

Gunther Wenz

Martin Kähler, dem Thomas Mann im 12. Kapitel seines »Doktor Faustus« in Gestalt des Hallenser Theologieprofessors Ehrenfried Kumpf ein fragwürdiges Denkmal gesetzt hat, veröffentlichte 1892 ein kleines Bändchen mit dem Titel »Der sog. historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus«. Darin vertrat er die programmatische These, dass der Gegenstand der modernen Leben-Jesu-Forschung lediglich ein menschliches Konstrukt und ein Erzeugnis mehr oder minder produktiver Einbildungskraft der jeweiligen Forscher sei, wohingegen als der eigentliche Jesus der­jenige zu gelten habe, den die Bibel geschichtswirksam als den Chris­tus des Glaubens bezeuge. Eine vergleichbare Argumentation findet sich in dem unlängst erschienenen Jesusbuch von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.; Hauptanliegen des Papstes ist es, den Jesus der Evangelien als den »historischen Jesus« im eigentlichen Sinne darzustellen. Der Jesus, dem echte geschichtliche Wirklichkeit zukommt, ist wie bei Kähler der im kanonischen Kerygma und im Glauben der Kirche sich vergegenwärtigende und zukunftserschließende Christus Jesus. Nicht unerhebliche Unterschiede zu Kähler zeigen sich allerdings in der päpstlichen Bestimmung des Verhältnisses Jesu Christi zu seiner Kirche: Während der evange­lische Theologe betont hervorhebt, dass Jesus Christus sich von sich aus lebendig in Erinnerung bringt, um als Subjekt seines Gedächtnisses zu fungieren, identifiziert der katholische das Gedächtnis Jesu Christi weitaus direkter mit demjenigen der Kirche, welche als hierarchisch strukturierte Erinnerungsgemeinschaft allein jene Repräsentation der Heilsgeschichte zu gewährleisten vermag, die ihrem authentischen Gehalt entspricht.
Auch M., Professor für Dogmatik und Theologische Propädeutik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, dessen Studien als apologetische Begleitstücke zum Jesusbuch des Papstes gelesen werden können, unterstreicht dezidiert die, wie es heißt (vgl. 68), Untrennbarkeit der Offenbarkeit Gottes in Jesus Christus von dessen Bezeugung durch die Kirche. Die entscheidende Anfrage an seinen im 1. Kapitel entfalteten christologischen Ansatz kann daher nur lauten, wie unbeschadet der Untrennbarkeit von Christologie und Ekklesiologie deren Unterscheidbarkeit gewahrt werden soll. Wie ist das Verhältnis Jesu Christi, an dessen leibhafter Wirklichkeit M. in antispiritualistischer Absicht mit Recht gelegen ist, zur Kirche als dem Leib des Herrn zu bestimmen? M.s Antwort lautet: Die Kirche, deren Tradition im authentischen Lehramt zum entwickelten Bewusstsein ihrer selbst kommt, ist das Sakrament Jesu Christi und als solches das Wirkzeichen der christologisch zu bedenkenden Realität, deren Wirklichkeit nur mit Hilfe und kraft kirchlicher Autorität wahrhaft zu erfassen ist. Indem er diese Antwort nach Maßgabe offizieller römisch-katholischer Lehrdokumente und unter häufigem Bezug auf Äußerungen des gegenwärtigen Papstes expliziert, stellt M. zugleich in unmissverständlicher Deutlichkeit heraus, worin nach seinem Urteil »trotz aller Gemeinsamkeiten in der Rechtfertigungslehre der immer noch trennende Unterschied zwischen der Ekklesiologie des Pro­tes­tantismus und jener der römisch-katholischen Tradition liegt« (83; vgl. ferner K. H. Menke, Die Frage nach dem Wesen des Christentums. Eine theologiegeschichtliche Analyse, Paderborn 2005). Wie auch immer: M.s Christologie ist eine Reflexionsgestalt seiner Ekklesiologie, und seine christologische Urteilsbildung spiegelt in Kritik und Konstruktion den offiziellen bzw. denjenigen Stand der römisch-katholischen Kirchenlehre wider, den M. für den offiziellen hält. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht in der klaren Identifizierbarkeit der eingenommenen Position, sein Nachteil darin, dass alle anderen Positionen mehr oder minder direkt und un­mittelbar am eigenen Standpunkt bemessen werden. Kritik kann so relativ umstandslos erfolgen; doch mindert ihr positioneller Charakter die nötige Konstruktivität.

Nachdem der Ausgangspunkt seiner Überlegungen klargestellt ist, bietet M. zunächst einen knappen Überblick über zentrale Kategorien und Grundgestalten sowohl der biblischen (2. Kapitel: 1. »Bund« und »Tora« als christologische Grundkategorien; 2. Die »Sühne«-Christologie; 3. Die »Messias«-Christologie; 4. Die »Präexistenz«-Christologie) als auch der griechischen Christologie (3. Kapitel), wobei er neben den einschlägigen Entscheiden vom ersten (325) bis zum zweiten (787) Konzil von Nizäa dem »Tauziehen« (246) zwischen der alexandrinischen und der antiochenischen Denkform sowie den »bleibenden Überhangproblemen einer unzureichenden Verhältnisbestimmung der einen Hypostase zu den zwei Naturen in Christus« (277) besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Sodann erörtert M. ausführlich sechs »Brennpunkte der jüngeren Christologie« (283), deren Fokus er jeweils mit einem Fragesatz umschreibt: 1. »Der historische Jesus – bloßer Mittler einer Idee oder eines Glaubens?« (4. Kapitel) In diesem Zusammenhang werden im Stil der Regensburger Papstrede tatsächliche bzw. vermeintliche Trennungen zwischen Schöpfer und Ge­schöpf (Nominalismus), Glauben und Denken (Reformation), Geschichte und Vernunft (Aufklärung) namhaft gemacht, um schließlich Reformation, Pietismus und Aufklärung als Spielarten des Subjektivismus vorzuführen.
Anschließend stellt M. die drei Phasen der sog. Leben-Jesu-Forschung unter Bezug auf den garstigen breiten Graben dar, der sich in Lessings Sicht zwischen den zufälligen Fakten der Geschichte und den notwendigen Wahrheiten der Vernunft auftut. 2. »Jesus – wahrer Mensch ohne menschliches Selbstbewusstsein?« (5. Kapitel): Unter dieser Überschrift werden so verschiedenartige Chris­tologien wie diejenige Friedrich Schleiermachers, Karl Rahners und Wolfhart Pannenbergs analysiert. 3. »Jesus Christus – der Weg, die Wahrheit und das Leben für alle Menschen aller Zeiten?« (6. Kapitel): Diese Frage gibt Anlass, sog. christozentrische (Karl Barth, Hans Urs von Balthasar, Gisbert Greshake) und sog. anthropozentrische (Johann Baptist Metz, Thomas Pröpper) Modelle der Soteriologie zu behandeln. 4. »Jesus Christus – religionsgeschichtlich einzige Selbstoffenbarung Gottes?« (7. Kapitel): Wesentliches Thema dieses Abschnittes sind christologische Konzeptionen der sog. Plu­ralistischen Religionstheologie (John Hick, Paul F. Knitter, Raimundo Panikkar, Perry Schmidt-Leukel). 5. »Jesus Christus – ›Wiederholung‹ oder ›Bestimmung‹ Israels?« (8. Kapitel): Hier werden am Beispiel der Entwürfe Friedrich Wilhelm Marquardts und Jean-Marie Lustigers Grundgestalten jüdisch perspektivierter Christologie thematisiert. Auf einen weiteren Brennpunkt jüngerer Christologie ist die Frage fokussiert, ob jedes Ereignis des Lebens Jesu ein Ereignis der Selbstoffenbarung Gottes sei (9. Kapitel). Sie veranlasst Erwägungen M.s zu unterschiedlichen christologischen Entwicklungen in Ost und West, zur Geschichte der sog. Mysterientheologie und zu gegenwärtigen Ansätzen einer, wie es heißt, genuin chalcedonischen »Christologie der Mysterien Jesu«.


Interessanter als die rhetorischen Fragen und ihre unschwer prognostizierbaren Antworten, die in Auseinandersetzung mit der jüngeren Christologiegeschichte entwickelt werden, sind die bereits angesprochenen, vor allem im 1. Kapitel thematisierten Grundlegungsfragen, auf die M. in seinem Schlusswort im 10. Ka­pitel zurückkommt. Während die getroffene Auswahl von Brennpunkten der jüngeren Christologie sowie die Gliederung und Zuordnung des Materials auch abgesehen von teilweise äußerst pauschalen, undifferenzierten Urteilen (z. B. 4.1.3 Spielarten des Subjektivismus: Reformation, Pietismus, Aufklärung) nur bedingt überzeugen und die exegetischen und dogmengeschichtlichen Skizzen kaum mehr bieten als zusammengefasstes Lehrbuchwissen, sind die systematischen Erwägungen, mit denen M. seinen Ansatz zu fundieren und Jesus Christus als den unableitbaren Grund und das unableitbare Ziel der Heilsgeschichte zu erweisen sucht (vgl. K.-H. Menke, Die Einzigkeit Jesu Christi im Horizont der Sinnfrage, Einsiedeln-Freiburg 1995), aller Aufmerksamkeit wert, weil sie um klare Profilierung bemüht sind. Von den ek­klesiologisch bestimmten erkenntnistheoretischen Prämissen der Christologie von M. war bereits die Rede. Dass diese Voraussetzungen mit der Erkenntnis der Christologie auch ihren materialen Gehalt und ihr inhaltliches Format bestimmen, wird namentlich dort deutlich, wo M. nach dem Verhältnis von Weihnachts- und Osterchristologie fragt (vgl. besonders 64 ff.). Nicht zuletzt an der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich für ihn die Recht­mäßigkeit des christlichen Bekenntnisses, dass Jesus der Sohn Gottes ist.
Für M. selbst sind u. a. folgende Antwortaspekte kennzeichnend: Dass Ostern von elementarer christologischer Bedeutung ist, wird nicht nur nicht bestritten, sondern ausdrücklich und mehrfach betont. Dabei hebt M. hervor, dass die neutestamentlichen Oster­aussagen nicht bloße Reflexions-, sondern Realitätsurteile, und zwar Realitätsurteile nicht von transgeschichtlicher, sondern von geschichtlich-historischer Art sind. Der Gekreuzigte ist in wirklicher Geschichte leibhaft erstanden, um in der Kirche als seinem Leib real präsent zu sein. Steht die zentrale Relevanz Osterns für die Christologie insoweit fest, so wäre es gleichwohl falsch zu sagen, dass Jesus durch Ostern erst etwas geworden ist, was er nicht schon vorher und von Anbeginn war und als was er nicht schon vorher und von Anbeginn zu erkennen gewesen wäre. Es ist nach M. im Gegenteil so, dass Jesus uranfänglich, will heißen: seit dem ersten Moment der Logosinkarnation der Sohn Gottes gewesen ist und als solcher zu erkennen war. Sein Leben und Sterben werden hierfür als Beleg, die Parthenogenese als Begründung angeführt, wobei die jungfräuliche Empfängnis Jesu bzw. seine Geburt aus der Jungfrau durchaus als »ein biologisches Faktum« (67) verstanden wird.
Wie das Grab Jesu aus Gründen der geschichtlichen Faktizität seiner Auferstehung leer sein musste, so musste die Logosinkarnation und die Selbstmitteilung Gottes in ihr, um geschichtlich zu sein, notwendig in Form der Fleischwerdung aus der Jungfrau Maria erfolgen (vgl. dazu im Einzelnen: K.-H. Menke, Fleischgeworden aus Maria. Die Geschichte Israels und der Marienglaube der Kirche, Regensburg 1999). Trotz dieser Analogie sind Weihnachten und Ostern nicht einfach deckungsgleich, und zwar auch nicht in dem indirekten Sinn, als sei das Auferweckungs- und Auferstehungsgeschehen »eine bloße Bestätigung der vorher schon offenbaren Identität des Jesus mit dem Christus« (64). Zwar ist die »Identität des präexistenten Sohnes mit dem«, wie es ausdrücklich heißt, »historischen Jesus« (519) bereits durch dessen jungfräuliche Empfängnis und Geburt ausgewiesen. Doch wird erst an Ostern offenbar, was im Leben und Sterben des mit dem Logos personal identischen irdischen Jesus ein für allemal für uns und an unserer Statt geschah: dass dieser nämlich »auf Grund seiner Beziehung zum Vater für alle Menschen aller Zeiten den Nexus zwischen dem physischen Tod und dem eigentlichen Tod der Trennung von Gott zerrissen hat« (523; vgl. im Einzelnen K.-H. Menke, Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln-Freiburg 1991; 21997).
Unbeschadet des inkarnationschristologischen Ansatzes, der als Ausgangspunkt und Grundlage der Christologie strikt festzuhalten sei, behält Ostern nach M. seine alles bestimmende Bedeutung: »Denn ohne das Zerreißen des Nexus zwischen dem physischen Tod und dem Tod der Scheol wäre Jesus Christus nicht der Erlöser aller Menschen. Kurzum: Das Osterereignis folgt nicht einfach aus dem Inkarnationsereignis, sondern gründet in diesem als seiner notwendigen Voraussetzung.« (64 f.) Es wäre dem christologisch-ekklesiologischen Gehalt seiner Arbeit zugute gekommen, wenn M. auf einige wohlfeile Kritik verzichtet und sich stattdessen auf eine begrifflich präzise Klärung und konstruktive Explikation dieses Grund- und Schlüsselsatzes konzentriert hätte, der zentrale dogmatische Organisationsprobleme bündig benennt, ohne sie bereits zu lösen.