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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

739–742

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Steinmann, Michael

Titel/Untertitel:

Die Offenheit des Sinns. Untersuchungen zu Sprache und Logik bei Martin Heidegger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 415 S. gr.8° = Philosophische Untersuchungen, 20. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-149428-4.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Die 2005 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Habilitationsschrift angenommene Arbeit entstand im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts zu »Heidegger und dem Neukantianismus«. Ihre klar und überzeugend durchgeführte Grundthese ist, dass Bedeutung nicht notwendigerweise intentional begründet ist. S. weist das in einer dicht argumentierenden Analyse von Heideggers Denken in drei Werkperioden nach: den frühen Schriften vor 1916, Sein und Zeit und den Sprachreflexionen des Spätwerks.
In einem ersten Teil (»Grundstrukturen des Sinns: Heideggers frühe logische Schriften«: 11–121) analysiert S. detailliert Heideggers Promotions- und Habilitationsschrift sowie einige in ihrem Umfeld entstandene kleinere Texte. Es wird deutlich, wie Heidegger in der Auseinandersetzung mit den Urteils- und Logiktheorien des südwestdeutschen Neukantianismus (Windelband, Rickert, Lask) den systematischen Ansatzpunkt für sein eigenes Philosophieren gewinnt. Das ungelöste Grundproblem des Neukantianismus war die Konzeption einer Einheit, die die Kluft zwischen Erkennen und Erkanntem, Auffassung und Gegenstand zu überwinden vermag. Weder ein subjektbasierter Idealismus noch ein objektzentrierter Realismus können das leisten. So sehr der junge Heidegger mit der Kritik am zeitgenössischen Subjektivismus und Intellektualismus übereinstimmt, so wenig kann er sich mit dem exemplarisch von Oswald Külpe vertretenen ›kritischen Realismus‹ anfreunden, der eine »induktive Metaphysik« postuliert, die aus den übrigen Wissenschaften herauswächst und sie ergänzt. Ein solcher Realismus tauge allenfalls zur Begründung empirischer Er­kenntnis und sei philosophisch »naiv«, wie Heidegger meint. Die Lösung muss ihm zufolge in der Logik gesucht werden, allerdings einer ontologisch gewendeten Logik, die nicht nur verbindliche subjektive Denkform ist, sondern als solche den hinreichenden Bestimmungsgrund von Objektivität abgibt.
Heidegger entwickelt sie über eine Urteilstheorie, die das Logische als Verbindungsoffenheit konzipiert. Während in Freges funktionaler Urteilstheorie der Kopula keine Bedeutung zu­kommt, ist diese für Heidegger entscheidend, weil sie die Einheit im Urteil repräsentiert. Frege zufolge besteht ein Urteil aus Gegenstand und Begriff. Begriffe sind Funktionen, die durch Einsetzung von Argumenten, die auf Gegenstände verweisen, einen ›Funktionswert‹ er­halten, und dadurch gewinnt das ganze Urteil einen ›Wahrheitswert‹, ist also entweder wahr oder falsch. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird über die Referenz geklärt, also durch Angabe dessen, worauf sich Worte und Sätze beziehen (Gegenstände bzw. Wahrheitswerte). Freges funktionale Begriffsanalyse entgeht dem Universalienproblem dadurch, dass er Prädikaten keine eigenständige Bezeichnungsweise zubilligt, sondern den Gehalt von Begriffen mit dem Gegenstand eines Urteils in diesem zu einem Ganzen verschmelzen lässt. Heidegger lehnt eine solche Verschmelzung und damit die funktionale Begriffsanalyse Freges ab. Ihm zufolge hat die Prädikation einen eigenständigen Sinn, der sich nicht allein »aus der Referenz des Satzes, sondern auch aus der mit ihr verbundenen Auffassungsweise ergibt« (36): Der Sinn eines Satzes ist nicht nur dessen Bezug, sondern die Art und Weise, wie dieser aufgefasst wird. Eben das kommt in der Kopula zum Ausdruck, die den »Sinn des Sinnes« eines Urteil artikuliert (39). Das Logische der Kopula definiert dabei keinen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern markiert »eben die Verbindungsoffenheit, in der ein Gegenstand auffassbar wird« (46).
Der Realitätsgehalt eines Urteils liegt also nicht allein darin, dass es über etwas spricht, sondern dass es das für jemanden tut. Diese beiden Momente lassen sich nicht auf eines von beiden oder auf ein Drittes reduzieren, sondern müssen in einer philosophischen Urteilstheorie gleichermaßen berücksichtigt werden. Die »Mannigfaltigkeit der Gegenstandsgebiete« be­dingt dementsprechend »jeweils eine ihnen entsprechend strukturierte Form der Urteilsbildung« (114), und um diese systematisch zu erhellen, muss von der logischen Sphäre des Sinns zur metaphysischen Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens weitergeschritten werden.
Der zweite und umfangreichste Teil der Arbeit (»Verstehen, Sinn und Sprache in Sein und Zeit«: 123–321) verfolgt in einer detaillierten Analyse zentraler Themenstränge von Sein und Zeit, wie Heidegger die damit umrissene Aufgabe in Form einer phänomenologischen Ontologie durchzuführen sucht. »Sinn« fungiert dabei nicht mehr als thematischer Leitbegriff, sondern das damit Ge­meinte erschließt sich nur aus dem Gefüge anderer Begriffe wie Verstehen, Auslegen, Rede usf., mit denen der Sinnbegriff in Zu­sammenhang steht. S. trägt dem dadurch Rechnung, dass er in mehreren Gedankengängen die Beziehungen zwischen Auslegung, Prädikation und Verstehen (154–177), Verstehen und Dingen (198–224) sowie Sprache und Zeit (255–293) rekonstruiert, um so die »Sprachtheorie im Ausgang von Sein und Zeit« (225–254) sowie den mit der Rede gegebenen »Holismus« zu entfalten (294–322). Auch dieser, so zeigt sich, »steht in einem hermeneutischen Verhältnis zur Zeit« (316): In der Rede wird auf je verschiedene Weise eine »Gesamtgegenwart organisiert«, indem »das Gegenwärtige in einen Sinnzusammenhang« integriert, die Bedeutung des jeweils Gesagten aber prinzipiell offengehalten wird, da »jede artikulierte Ganzheit nur ein möglicher Ausdruck der unerschöpflichen Ganzheit ist« (316) und daher weitere Rede ermöglicht und herausfordert. Die Gegenwart (»Fundamentalpräsenz«) wird dementsprechend von Heidegger nicht als »Einheitsprinzip der Wirklichkeit« verstanden, sondern als »offener Zusammenhang« möglicher weiterer Anschlüsse: »Die Sprache ist eine Hermeneutik der Zeit, die der Zeit selbst unterliegt« (316).
An dieser Stelle hätte sich der Übergang zu einer Ontologie der Möglichkeit angeboten, die erlaubt hätte, Heideggers Projekt mit anderen Versuchen der Bearbeitung ähnlicher Probleme in der Prozessphilosophie zu vergleichen. S. aber folgt dem Fortgang von Heideggers Denken, indem er in einem dritten Teil das Verhältnis von »Sprache und Welt im Spätwerk Heideggers« (325–389) rekonstruiert. Mit Recht wird hervorgehoben, dass Heideggers Bemühung um die Sprache unfertig war und keine abschließende Gestalt erreichte. Das schließt Ambivalenzen ein, die zu gegenläufigen Deutungen Anlass geben. »Das Bild der Sprache changiert ... zwischen der Freiheit des symbolischen Spiels in der Erschließung von Welt und der Unterwerfung unter eine absolut verstandene, hypostasierte Sprache, die jeglichen Bezug auf Seiendes determiniert. Beide Hinsichten«, so betont S. zu Recht, »knüpfen nicht völlig unberechtigt an Heideggers Sprachdenken an, aber keine beachtet das methodische Gebot, die Sprache nicht aus dem Bezug auf anderes, sondern in der ihr eigenen Grundfunktion, in ihrem ›Wesen‹, zu verstehen« (9). Die »Strukturen von Sinn und Sprache« sind »auch und zunächst ontologisch« aufzuklären (10). S. konkretisiert das, indem er Heideggers Figur der Welt als Geviert als den »Spielraum von An- und Abwesenheit« analysiert, in dem sich menschliches Leben vollzieht (337–354). Auch die Dinge werden dementsprechend am Leitfaden ihrer Ge­brauchs- und Verwendungsweisen als Figurationen von Seins- und Zeitverhältnissen verstanden (355–372). Und schließlich wird auch die Offenheit der Sprache aus dem in der Sprache offengehaltenen »Unter-Schied« zwischen Welt und Ding entwickelt, von dem her sich nicht nur der Primat des Hörens im Sprachdenken des späten Heideggers verständlich machen lässt (386 ff.), sondern auch die Offenheit der Sprache und die Unabschließbarkeit von Sinn und Bedeutung ergibt: Nicht nur ist »Jedes gesprochene Wort ... schon Antwort« (387), sondern es ruft auch stets neue Antworten auf und setzt so neue Bedeutungsgebungen frei. S. gelingt es so, auch die zuweilen esoterisch anmutenden Texte des späten Heideggers argumentativ überzeugend zu erschließen und als Arbeit an einem freiheitsoffenen, kreativen Sprachverständnis zu erweisen, in dem Bedeutung nicht in­tentional begründet, sondern evokativ herausgelockt und produktiv zugespielt wird.
S.s beeindruckende Untersuchung bestreitet nicht die mannigfachen ›Kehren‹ in Heideggers Denken. Sie macht aber überzeugend deutlich, dass sie sich als Schritte in der Auseinandersetzung mit einem einheitlichen Problemzusammenhang verstehen lassen. Indem der junge Heidegger die Einsicht in die Vorgängigkeit eines Prinzips der Synthesis nicht mehr bewusstseinstheoretisch einzulösen sucht, sondern als eine Relationskonzeption ausarbeitet, die gegenüber jeder ihrer Konkretionen durch prinzipielle Offenheit und Unerschöpflichkeit ausgezeichnet ist, wird es ihm möglich, Bedeutungsgebung radikal dynamisch als offenen Sinnprozess zu denken. Dazu ist er in seinen akademischen Qualifikationsarbeiten unterwegs, das versucht er, in Sein und Zeit im Rahmen einer phänomenologischen Ontologie zu konkretisieren, und daran arbeitet er auch im Sprachdenken seines Spätwerks. Indem S. das detailliert herausarbeitet, gelingt es ihm, in seinen Analysen von Heideggers Bemühungen die Grundlinien einer hermeneutischen Philosophie aufzuzeigen, die nicht unter dem Diktat des verstehenden Nachvollzugs von Vergangenem steht, sondern durch ihre Einsicht in die prinzipielle Offenheit kreativer Sinngestaltungen im Reden und Hören dafür sensibilisiert, den Grundcharakter menschlichen Lebens im Vollzug zugespielter Freiheit zu sehen, die Unterschiede setzt, wahrnimmt und wahrt.