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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

737–739

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stagi, Pierfrancesco

Titel/Untertitel:

Der faktische Gott.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 319 S. gr.8° = Orbis phaenomenologicus, 16. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-8260-3446-6.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Dass die Philosophie »atheistisch« zu sein habe und keine wie auch immer geartete Weltanschauung vertreten oder verteidigen dürfe, war die früh geäußerte Überzeugung Heideggers. Spätestens seit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift (1915–1916) ist eine ›christliche Philosophie‹ für ihn ein hölzernes Eisen. Statt am Streit der Weltanschauungen teilzunehmen habe die Philosophie auch im Denken die Fraglichkeit des Lebens zu bewahren, indem sie die Strukturen der Selbst- und Mitwelt be­schreibt und so formal die Phänomene anzeigt, auf die zu achten ist, wenn man den Vollzugssinn des Lebens verstehen will. An die Stelle begründungsorientierter Religionsphilosophien tritt so bei Heidegger in den frühen 20er Jahren programmatisch die Bemühung um eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung – eine Wende, die erstaun­liche Ähnlichkeiten mit Bemühungen des späteren Wittgenstein hat.
Darauf geht S. mit keinem Wort ein. Thema seiner unter Anleitung von Gianni Vattimo (Turin) und Günter Figal (Freiburg) verfassten Arbeit, die im Sommersemester 2005 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde, ist allein die Entwicklung von Heideggers ›Hermeneutik der Faktizität‹ in den frühen Freiburger Vorlesungen am Leitfaden seiner Auseinandersetzung mit der religiösen Wirklichkeitserfahrung der urchristlichen Lebenserfahrung. Die aber wird von ihm aufmerksam und detailgenau rekonstruiert. In präzisen Analysen der Vorlesungen, Vorlesungsnotizen und Vorlesungsnachschriften der frühen 20er Jahre zeigt S., wie sich Heideggers Philosophie in der Bemühung um eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung bildet.
Nach einer knappen Einleitung (11–26), die den Begriff der religiösen Erfahrung exponiert, entfaltet S. in einem ersten Teil (Hermeneutische Phänomenologie und Religionsphilosophie: 29–92) die Neuorientierung von Heideggers Phänomenologie in Abgrenzung gegenüber der überkommenen Religionsphilosophie (Bernhard, Schleiermacher, Otto, Reinach, James, Troeltsch).
In einem zweiten Teil (Das Christentum und die Selbstwelt: 95–243) geht S. Heideggers Selbstcharakterisierung als »christlicher Theologe« in einem Brief an Löwith vom 19. August 1921 auf den Grund, indem er detailliert nachzeichnet, wie sich Heideggers Hermeneutik der Faktizität in Auseinandersetzung mit Paulus und der urchristlichen Verkündigung und Zeiterfahrung entwickelt. Die drei Kapitel dieses Teils sind das Zentrum des Buches und ein wichtiger Beitrag zur Herkunft und schrittweisen Klärung der Kategorien, mit denen Heidegger die Grundmerkmale des faktischen Lebens beschreibt, auch wenn dies seit 1923 zunehmen ontologisierend geschieht und die theologischen Herkünfte in der Endgestalt der fundamentalontologischen Daseinsanalyse von »Sein und Zeit« nicht mehr zu erkennen sind. Mit Recht hebt S. hervor, dass der Katholik Heidegger im Zuge seiner Paulusstudien methodisch zunehmend zum Lutheraner geworden sei: Die Einstellungen von Philosophie und Theologie lassen sich nicht analogisch vermitteln, sondern sind klar zu trennen, um »einen der religiösen Sache angemessenen Zugang« zu gewinnen, »der sich von der Philosophie fern hält und die Eigentümlichkeit der religiösen Gegenstände bewahrt« (190). Heideggers Phänomenologie der Religion leistet das, insofern sie immer nur »formal anzeigend« sein will und sich jedem Versuch verweigert, »die Besonderheit der religiösen Erfahrung« zu zerstören, indem man »sie in eine ihr fremde Sprache übersetzt« (190).
Der dritte Teil (Die Hellenisierung des Christentums und die Mitwelt: 245–292) konzentriert sich auf Heideggers Augustinus-Vorlesung, in der dieser den Versuch von Augustinus in den Confessiones analysiert, die ursprüngliche religiöse Erfahrung der urchristlichen Gemeinde mit den Mitteln der griechischen Philosophie zu erklären. So beeindruckend das gelungen sein mag, so sehr hat Augustinus Heidegger zufolge durch seine philosophische Einstellung die echte christliche Lebenserfahrung verzeichnet, indem er die eschatologische Erwartung eines zukünftigen Ereignisses zur fruitio Dei verkürzt hat.
Eine knappe Schlussbetrachtung (»Dire autrement«. Philosophie und Religion beim jungen Heidegger: 293–303) sowie Bibliographie und Personenverzeichnis beschließen den Band.
Die Zuordnung der Paulus-Analysen von Teil II und der Augus­tinus-Analysen von Teil III zu den Beschreibungshorizonten von Selbstwelt und Mitwelt überzeugt nicht in jeder Hinsicht. Nicht nur wird die dritte Kategorie der Umwelt nicht in entsprechender Weise beachtet, sondern S. erhellt auch nicht zureichend, dass und wie diese Welt-Unterscheidungen in Heideggers Verständnis von ›Situation‹, seiner Ausdifferenzierung von Gehalts-, Bezugs- und Vollzugsinn sowie der Radikalisierung der Frage nach dem Vollzugssinn gründen, also aus der Frage nach dem »Wie« des Lebensvollzugs in Situationen entwickelt werden. Allerdings sieht S. richtig, dass es Heideggers Phänomenologie der Religion darum geht, das Sichzeigen des Phänomens des Religiösen im Selbstleben phänomenologisch formal anzuzeigen. Gerade weil der direkte Weg des religiösen Glaubens dem Philosophen versperrt ist, kann er nur den indirekten, nämlich geschichtlichen Weg zur Erhellung des Seinsverständnisses der christlichen Lebenserfahrung wählen. Nicht die Theologie interessiert Heidegger, sondern die in dieser ausgelegten Phänomene des religiösen Lebens. Von Anfang an stehen für ihn Philosophie und Religion auf verschiedenen Ebenen. Das Verhältnis von Philosophie und Theologie dagegen ist in den Texten der frühen 20er Jahre noch nicht in jeder Hinsicht klar. Eine scheinbar klare Verhältnisbestimmung wird erst 1927 in der Sprache von »Sein und Zeit« erreicht: Die Philosophie ist eine ontolo­gische Wissenschaft, konzentriert sich also auf das Sein des Seien den, die Theologie dagegen eine ontische Wissenschaft, die das Positum der Offenbarung systematisch entfaltet. Damit ist sie Weltanschauungswissenschaft, während die Philosophie formal anzeigend bleibt, ohne zu bewerten, was sie beschreibt. Sie befragt, aber sie bezieht selbst keine Stellung.
Der Charakter radikalen Fragens von Heideggers Philosophie wird von S. gut herausgearbeitet. Die auffällige Tendenz seiner frühen Texte, die philosophische Aufgabe und Verfahrensweise im Singular zu benennen und nach dem Grund, der Grunderfahrung oder dem Ursprung religiöser Erfahrungen zu suchen, wird aber nicht kritisch erhellt, obgleich diese Tendenz von Heideggers Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition nicht zu trennen ist. Auch die 1927 in »Phänomenologie und Theologie« erreichte Zuordnung von Philosophie und Theologie hat Heidegger selbst wohl nicht für so gelungen eingeschätzt, wie S. nahelegt. Nicht nur hat er den Text des 1927 in Tübingen und 1928 in Marburg gehaltenen Vortrags französisch erst 1969 und deutsch erst 1970 veröffentlicht. Er hat ihn auch zusammen mit einem Brief vom 11.3.1964 publiziert, der in manchem – etwa im Blick auf die Rolle der Sprache – andere Akzente setzt. Und er hat die Veröffentlichung Rudolf Bultmann gewidmet »in freundschaftlichem Gedenken an die Mar­burger Jahre 1923 bis 1928«. Dass die Beziehung zu Bultmann in S.s Analysen so gut wie keine Rolle spielt, ist ein Mangel seiner Untersuchung. So intensiv er die Texte Heideggers liest, so unzureichend berücksichtigt er die theologischen Gesprächs- und Denkpartner Heideggers in den formativen Jahren seiner Philosophie (Kierkegaard, Bultmann), und so wenig zieht er die weitere Wirkungsgeschichte von Heideggers hermeneutischer Phänomenologie in seine Rekonstruktion der Genese von Heideggers Hermeneutik der Faktizität mit ein. So lehrreich seine Textanalysen sind, so sehr wecken sie den Wunsch, die dargestellte Genese von Heideggers phänomenologischer Hermeneutik aus der Analyse (ur)christlicher Lebens- und Zeiterfahrung mit parallelen Bemühungen bei Bultmann und Barth kritisch zu vergleichen.