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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

735–737

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lacoste, Jean-Yves

Titel/Untertitel:

La phénomenalité de Dieu. Neuf études.

Verlag:

Paris: Cerf 2008. 231 S. 8° = Philosophie et théologie. Kart. EUR 26,00. ISBN 978-2-204-08675-2.

Rezensent:

Martin Leiner

Der in Paris und Cambridge arbeitende Jean-Yves Lacoste ist einem breiteren Publikum in Deutschland durch die Herausgabe des in mehrere Sprachen übersetzen Dictionnaire critique de théologie (Paris: PUF 2002) bekannt. In der französisch- und englischsprachigen Welt gehört er zu den mittlerweile bekannten Vertretern einer theologisch wie philosophisch relevanten Phänomenologie. Er selbst betont, dass Phänomenologie diesseits des Gegensatzes beider Disziplinen in einem neutralen Feld zwischen Philosophie und Theologie arbeitet (9). Er gibt in den neun Studien des Bandes ein instruktives Beispiel, wie er auf den Spuren von Husserl, Heidegger und Levinas zu einer Beschreibung der Gegebenheitsweisen Gottes gelangt.
Die erste Studie, »Die abwesende Grenze«, stellt in gewisser Weise eine Vorbemerkung dar. Anhand von Kierkegaards Philosophischen Brocken macht L. deutlich, dass es eine Übergangsregion zwischen Theologie und Philosophie gibt, in der jede Grenzziehung künstlich ist. Die wahre Unterscheidung verlaufe nicht zwischen Theologie und Philosophie, sondern zwischen beiden und der »erbaulichen Rede«.
In Studie II »Wahrnehmung, Transzendenz und Gotteserkenntnis« zeigt L. zunächst, dass ein Phänomen im Sinne Husserls immer Wahrgenommenes und Nicht-Wahrgenommenes beinhaltet. Die »Subsistenz« (Heidegger) als eigene Existenzform der Zahlen, die nicht intentionalen Gefühle (Heideggers »Befindlichkeiten«) und das in jedem Akt unthematisch mitgegebene Selbstgefühl sind Themen der Phänomenologie, die über einen Bezug auf wahrgenommene Objekte hinausgehen. Diese, im Wesentlichen der Kritik Janicauds am »tournant théologique et la phénoménologie« (38) geschuldeten Ausführungen, bereiten das Feld für eine erste Überlegung, wie »das Absolute oder Gott« (47) im Bereich des Fühlens erscheint. Dass man Gott nicht aus diesem Bereich ausschließen kann, ist begründet in der Ganzheitlichkeit der Gottesbeziehung und in der wesentlich als Gefühl zu kennzeichnenden fiducia als Element des Glaubens. Ausgehend von Augustins Satz »non intratur in veritatem nisi per charitatem« (contra Faustum 32,18) be­streitet L., dass R. Ottos mysterium tremendum und fascinosum und Schleiermachers Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit Erfahrungen der Liebe im Vollsinne des Wortes sind. Sie seien, in bonam partem interpretiert, Erfahrungen der Allmacht und des Schöpfers. Sie verhüllen Gott aber mehr, als dass sie ihn offenbaren (49–52), was durchaus zutreffend zum Ausdruck kommt in der Aussage, dass Gott der Ganz Andere im Sinne Plotins ist. Der partielle und ambivalente Charakter der Gefühlserfahrung tritt zurück, wenn die Liebe zur Grundlage der Gefühlsbeziehung zu Gott gemacht wird. Aber auch die mit der Liebe gegebene Erfahrung Gottes führt zu einer Erfahrung der Anwesenheit ( présence) Gottes bei immer noch größerer Abwesenheit. Die Parusie Gottes wird notwendig erst im Eschaton erwartet. L. formuliert als Hypothese für jede alltägliche und nicht besonderen Zeugen vorgehaltene Gotteserfahrung »Non potest divina praesentia sentiri, quin etiam major sit absentia sentienda«. Trifft diese Hypothese zu, dann folgt daraus eine scharfe Kritik jeder Form realisierter Eschatologie, speziell an Hegel und Bultmann (53).
Die dritte Studie, »L’apparaître et l’irreductible«, stellt eine kurz gefasste Auseinandersetzung mit grundlegenden Auffassungen Hus­serls zur phänomenologischen Methode dar. Im letzten Ab­schnitt widmet sie sich der Unmöglichkeit einer phänomenologischen Reduktion von Gottes Gegenwart (77–85). Der erste Teil stellt eine mit anderen Autoren parallel laufende »Entmythologisierung« der Epoché dar. Der Widerspruch trifft nicht nur Husserls überschwängliche Metaphorik, nach der wir als Weltkinder geboren werden, durch die Epoché aber ein eigenes Ich konstituiert wird, das in einer besonderen Berufseinstellung einer eigenen Welt, dem Gegenstand der Phänomenologie, entgegentritt. L. zeigt vielmehr, dass es bereits in der natürlichen Einstellung eine »spontane Reduktion« gibt, bei der nicht die Existenz, sondern allein der noematische Ge­halt oder das Wesen (Eidos) einer res im Vordergrund steht. Musterbeispiel dieser Reduktion sei der Umgang mit einem Kunstwerk. Umgekehrt macht L. darauf aufmerksam, dass der Bereich des Irreduziblen größer ist, als Husserl annahm. L. zeigt, dass es in konkreten Begegnungssituationen zwar möglich ist, die Existenz des Anderen einzuklammern und seinen Leib als Körper zu behandeln. Wenn der Andere uns aber als anderes Bewusstsein begegnet, dann er­scheint er als ein Du, das uns bleibend mit seiner ethischen Forderung gefangennimmt. L. folgt damit Levinas, stellt aber Husserls Beschreibung, die vom Körper ausgeht, als eine weitere mögliche Er­fahrung daneben (68–72). Eine andere Ausnahme ist die Sprache. Auch sie können wir nicht der phänomenologischen Reduktion un­terziehen, weil in ihr sich die Anrede durch das Du fortsetzt und als Wir in jeder Erfahrung weiterwirkt. Ausgehend von der philosophischen Annahme von Irreduziblem beschreibt L. Gottes Gegenwart.
Mit Calvin muss man nicht mit der Frage, ob Gott existiert, sondern mit seinem Wesen beginnen (77). Geht man aber von dem Wesen Gottes und seiner Gegebenheit im Glauben oder im Gebet aus, dann ist eine phänomenologische Reduktion hochproblematisch. Jede Reduktion zerstört das im Glauben und der Ich-Du-Beziehung gegebene Phänomen. Wie der Andere bei Levinas uns gefangen nimmt, so beansprucht uns Gott unmittelbar und fordert uns zu einer Antwort auf (84 f.). Analog zu Levinas’ »Töte mich nicht!« formuliert L. als Sprachereignis, das dem Begegnen des Absoluten entspricht: »Folge mir nach!« (85) Dieser grundlegenden Gegebenheitsweise Gottes, der nach L. vor allem Augustin, Anselm und Barth Rechnung getragen haben, steht als phänomenologische Sackgasse der Ansatz bei der religiösen Erfahrung gegenüber. Ihr Problem ist die Beschränkung auf individuelle Geltung und die stets zweifelhafte Rückführung auf Gott. Alles, was wir über Gott sagen, muss in dem Gott begründet sein, der uns – indirekt und vermittelt durch Texte, Zeichen und Menschen – aber doch versammelt in einem Sprachereignis anspricht (85).
Die vierte Studie, »Gott erkennbar als liebenswert. Jenseits von ›Glaube und Vernunft‹«, ist eine Weiterführung dieses Ansatzes mit gleichzeitiger Stellungnahme zur päpstlichen Enzyklika »Fides et ratio«. Ein Ausgangspunkt ist wieder der Grundsatz: »non intratur in veritatem nisi per charitatem«. L. zeigt, dass zum glaubenden Zugang zu Gott von allem Anfang an die Liebe gehört, während der philosophische Zugang zu Gott so beschaffen ist, dass er zu Glaube und Liebe auffordert (109). In beiden Fällen gibt es aber keine Gottesbeweise im Sinne eines Kalküls, das jede Freiheit vernichten würde, sondern Gott lässt sich auf den Menschen so ein, dass er ihm Raum gibt zur freien Zustimmung (96 f.). Gott ist nicht notwendig, aber durchaus von der Vernunft als erste Ursache usw. zu finden. Philosophie kann im Sinne von Clemens von Alexandrien zur Vorbereitung des Glaubens werden. Das philosophische Finden des Absoluten ist allerdings bedroht, weil es darauf beruhen kann, dass man, wie etwa die Ontotheologie, sich für Gott um eines anderen und nicht um seiner selbst willen interessiert (93). Gott aber ist um seiner selbst willen interessant! Von diesem Ansatz aus kritisiert L. die neuscholastische Trennung von Glaube und Vernunft und die Entgegensetzung des Gottes Abrahams und des Gottes der Philosophen (Pascal) scharf. Auch an der Enzyklika »Fides et ratio« ist zumindest zu bemängeln, dass in diesem Text so wenig von der Verbindung von Liebe und Erkenntnis die Rede ist, es sei denn, man lese die Enzyklika so, dass die Betonung der Wahrheit eine andere Seite der Betonung der Liebe darstellt (110).
Die fünfte Studie bezieht sich auf eine Fußnote in »Sein und Zeit« (§ 29, Anm. 3), in der Heidegger sich das von L. mehrfach zitierte augustinische Prinzip »Nur durch die Liebe gelangt man zur Wahrheit« zu eigen macht. L. betont die Spannung dieser Fußnote zum Text von »Sein und Zeit« und versucht, sie dennoch in diesem Zusammenhang zu verstehen. Dies gelingt nicht eigentlich, weil die Fußnote auf eine Liebe zu Gott verweist, für die in »Sein und Zeit« kein Platz ist; dennoch ist sie ein Zeichen, das auf andere Möglichkeiten verweist.
Die Studien »Die Phänomenalität der Antizipation«, »Die donation als Versprechen« arbeiten den Zukunftsbezug in der Gegebenheitsweise Gottes näher aus. L. zeigt, dass die reichsten Phänomene die unabgeschlossenen, inchoativen Phänomene sind (140). Mehr noch: Kein Phänomen ist vollständig gegeben und nur wenige Phänomene weisen nicht zeitlich über sich hinaus. Von hier aus unterscheidet er die présence als unvollständige Gegebenheit (donation inachevée) von der Parusie als vollständiger Gegebenheit (151) und unterscheidet die »Erfüllung« des Phänomens im Sinne Husserls von der eschatologischen Erfüllung. Ausdrücklich hält L. en passant fest, dass die sakramentale Gegenwart keine eschatologische Erfüllung ist (156). Jede positiv erlebte donation hat aber den Cha­rakter eines Versprechens, in dem Sinne, dass wir immer weitere Momente erwarten, in denen sich das Phänomen uns reicher und anders gibt. Kein Phänomen wird zu einem fertigen Gegebenen und gerade darin liegt der Fehler jeden Denkens, das von Daten und Fakten ausgeht und damit jeden Zukunftsbezug ausschaltet (172 f.). Dies gilt auch für die Offenbarung und Selbstmitteilung Gottes. Auch sie kann niemals als definitives, »letztes Wort« verstanden werden (176). – Die abschließenden Studien »De soi à soi« und »Resurrectio carnis« zeigen in dem entwickelten Rahmen Denkmöglichkeiten für eine Unsterblichkeit der Seele und eine Auferstehung des Fleisches auf.
Insgesamt stehen die Positionen von L. Augustinus, Hans Urs von Balthasar und Eberhard Jüngel in nicht wenigen Elementen nahe. Durch die sorgfältige, an Husserl geschulte phänomenologische Darstellung geht er über diese Autoren hinaus und schafft eine eigene theologisch und philosophisch bedeutsame Phänomenologie. Es wäre zu begrüßen, von diesem Autor deutsche Übersetzungen zu haben.