Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

723–725

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Achtner, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Vom Welterkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter als Voraussetzung für die Entstehung naturwissenschaftlicher Rationalität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 430 S. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 12. Geb. EUR 84,90. ISBN 978-3-525-56983-2.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

»Dynamik ist das Signum der Moderne« – so beginnt die Frankfurter Magisterarbeit. A. will die aktuelle Dynamik der Moderne, die durch die Stichworte Nano-, Raumfahrt-, und Gentechnologie sowie Hirnforschung und künstliche Intelligenz umrissen wird (13, vgl. 75), auf einen Startimpuls im 13./14. Jh. zurückführen. Verschiedene Faktoren haben seit dem 14. Jh. zur Entstehung der Moderne geführt, aber Dynamisierung als ein wesentlicher Faktor habe sich im 13./14. Jh. eingestellt. A. interessiert sich vor allem dafür, wie die anthropologische Veränderung, die in einer Dynamisierung des menschlichen Weltverhältnisses bestehe, zu einer Veränderung der physikalischen Welterkenntnis geführt habe. Die primäre Dynamisierung des Weltverhältnisses müsse sich in der Physik widerspiegeln (16 f., vgl. 73).
Hier liegt ein logischer Fehler vor, der für den Fortgang der Arbeit verhängnisvoll geworden ist. Denn natürlich kann die Physik eine ganze Weile dieselbe bleiben, wenn sich das menschliche Weltverhältnis verändert hat. Und selbst wenn sich im 14. Jh. sowohl die Anthropologie als auch die Physik geändert hätten, so wäre damit nicht bewiesen, dass die erste Veränderung die Ursache für die zweite war.
Der erste Hauptteil besteht in einer sehr lesenswerten Forschungsgeschichte zum Begriff Naturgesetz (20-76, von Whewell bis Oakley). Die veränderte Physik lasse sich leitmotivisch am Be­griff des Naturgesetzes darstellen. Dabei orientiert sich A. nicht am Vorhandensein des expliziten Begriffes, sondern des eventuell nur impliziten Konzepts des Naturgesetzes (17 f.). Forschungsgeschichtliche Ausführungen zu anderen Aspekten des weit gefassten Buchthemas finden sich in den Folgekapiteln.
Unter der Überschrift Die Verstehbarkeit der statisch geordneten Welt handelt A. Thomas von Aquin ab (77-174). Er sei abhängig von Aristoteles, der zwar die Bewegung zu einem zentralen Inhalt seiner Naturphilosophie gemacht, aber diese Dynamik (als Vertreter eines kontemplativen Lebensideals) nicht für das praktische Weltverhältnis des Menschen fruchtbar gemacht habe. Außerdem habe der Stagirite keinen strengen Kausalbegriff, keinen Begriff eines Naturgesetzes, und er kenne nicht das wissenschaftstheoretische Kriterium der Prognostizierbarkeit (93; ob die Aristotelesexegeten damit zufrieden sein können? Das Gesetz des natürlichen Ortes etwa ist durchaus ein mit Notwendigkeit und Prognostizierbarkeit verknüpftes Bewegungsgesetz).
Thomas löse sich ansatzweise von dem Philosophen, indem bei ihm »in den Kriterien Evidenz, Prinzipien, Notwendigkeit und Prognostizierbarkeit potenziell Keime autonomer rationaler Wissenschaftlichkeit schlummern« (133). Thomas komme aber nicht zu einem Konzept des Naturgesetzes, das »empirisch entscheidbare Alternativen zu formulieren« vermag. Die aristotelisch-thomasische Fixierung auf sinnliche Erfahrungen verharre in einer »qualitativ ausgerichteten Naturerkenntnis, die dem Gesetzesbegriff, der auf dem Quantitativen beruht, zuwiderläuft« (167). Auch in Bezug auf das Weltverhältnis des Menschen ändere sich bei Thomas nichts im Vergleich zu Aristoteles: Der Mensch soll sich innerlich vervollkommnen, aber nicht auf die äußere Welt einwirken (169 f.).
Wilhelm von Ockham thematisiert A. unter dem Titel Die Entdeckung des dynamischen Gottes (175-312). Die Kausalkette, die A. in diesem Kapitel herausarbeiten will, beginnt bei der im Vergleich zu Thomas neuen Philosophie Ockhams und führt über die Naturphilosophie seiner Schüler Johannes Buridan und Nicole Oresme zu den Anfängen der Naturwissenschaft bei den Oxford Mertonians und anderen (181 f.). Basierend auf Bannachs Arbeit nimmt A. den Gedanken von der absoluten Freiheit Gottes zum Ausgangspunkt und will daraus ein anderes Wissenschaftskonzept Ockhams herleiten, in welchem auch empirische Kriterien gelten sollen (207).
Es erscheint mir nicht überzeugend, dass es zwischen beiden Inhalten einen ursächlichen Zusammenhang geben muss. A. weist selbst darauf hin, dass Ockham durch die Interpretation der aristotelischen Induktion zu seiner empiriegeleiteteren Wissenschaft komme. Die fortschreitende Aristotelesinterpretation ist aber eine allgemeine Signatur des Spätmittelalters und kann nicht auf die absolute Freiheit Gottes bei Ockham zurückgeführt werden. Ähnliches gilt für die Tatsache, dass bei ihm die finale Ursache hinter der Wirkursache zurücktritt. In der Tat kann dies »eine Generation nach Ockham bei der ersten Generation von Physiker-Theologen ... umgesetzt« werden (226). Aber es ist doch mehr als fraglich, ob diese »Physiker-Theologen« nur auftreten konnten, weil Ockham vorher seine Lehre von der absoluten Freiheit Gottes entwickelt hatte. A. macht selbst darauf aufmerksam, dass im 14. Jh. die mechanische Uhr, die Brille und die Perspektive in der Malerei erfunden und die Mühlentechnik vervollkommnet wurde (177). Sollten diese technischen Neuerungen wirklich nur vermittelt über Ockhams Theologie auf die Naturerkenntnis des 15. Jh.s eingewirkt haben?
Merkwürdiger Weise entwickelt A. die Anthropologie Ockhams erst im Anschluss an die wissenschaftstheoretischen Erörterungen, und innerhalb der Anthropologie bildet wieder der Zeitbegriff einen Zielpunkt, den Ockham aber weitgehend in naturphilosophischen Untersuchungen gewinnt (272-297). Bildet dann aber die anthropologische Handlungstheorie überhaupt eine Basis für die Entstehung der modernen Naturwissenschaft?
Der letzte Teil ist dem Beitrag Ockhams und seiner Schüler zur Physik gewidmet. In diesen spätmittelalterlichen Generationen wurden die Begriffe und Methoden entwickelt, die es dann Galilei ermöglichten, ein moderner Naturwissenschaftler zu werden.
Insgesamt muss wohl die – von A. selbst zitierte – Kritik, die Wolfgang Hübener an der Nominalismus-Legende geübt hat, auch auf die vorliegende Arbeit angewendet werden: Das historische Megapanorama ist zu spekulativ, die herausgearbeiteten Verbindungslinien der Szenen tragen nicht. Andererseits sind die einzelnen Themenkomplexe ansprechend geschrieben, erschließen sehr gut die Quellen und regen zu weiterer Hypothesenbildung an. Das Buch kann daher als Einführung in die spätmittelalterliche Geis­tesgeschichte sehr wohl empfohlen werden, und dies vor allem unter dem Gesichtspunkt eines interdisziplinären Kontextes.