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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

720–721

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Volkmar, Christoph

Titel/Untertitel:

Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIV, 701 S. gr.8° = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 41. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-149409-3.

Rezensent:

Karlheinz Blaschke

Die Reformationsgeschichte hat an der Universität Leipzig eine lange und anerkannte Tradition. Die anzuzeigende Promotionsarbeit fügt sich darin nicht nur ein, sie geht auch weit über die herkömmliche, zu diesem Thema vorliegende Gedankenwelt hinaus, indem sie in einem einleitenden Abschnitt eine »Kritik der Forschung« vorträgt, die von einer hohen Warte und einem weiten Ho­rizont ausgehend einen ausgezeichneten Ertrag an Sachkenntnis, Belesenheit, Vertrautheit mit der anstehenden Fachliteratur und tiefgehendem Problembewusstsein darbietet. Was hier ein gerade einmal 30-jähriger Forscher an Umsicht, Urteilskraft, Denkfähigkeit und wissenschaftlicher Reife bewiesen hat, ist nicht alltäglich und tief beeindruckend. Auf 18 Seiten vermittelt er eine Summe des Wissens zu einem hochbedeutsamen Gegenstand, der im Laufe einer jahrzehntelangen Forschungsgeschichte angewachsen ist und hier mit neuen Erkenntnissen bereichert wird. Wenn man diesen Abschnitt gelesen hat, dann weiß man »fast« alles, was zu dieser Sache zu sagen ist.
Der als Mensch mit einem untadeligen Charakter, als Fürst in seiner Zielstrebigkeit anerkannte und in seiner erfolgreichen Regierung lobenswerte letzte katholische Wettiner des Reformationsjahrhunderts gilt in der sächsischen Landesgeschichte als tragische Gestalt, weil er bedingungslos am alten Glauben festgehalten hat und damit auch in seiner Familie gescheitert ist. Er hat den Sieg der lutherischen Reformation in ihrem Ursprungslande um mehr als ein Jahrzehnt verhindert, obwohl ihm die Reformbedürftigkeit der Kirche seiner Zeit durchaus bewusst war und er sich in seiner Kirchenpolitik um mancherlei Verbesserungen bemüht hat. Die Tragik seiner Person liegt eben darin, dass sein Reformwille mit allen seinen Anstrengungen nicht ausgereicht hat, die aufgewachsenen Widersprüche zu einer produktiven Lösung der Reformfrage hinzuführen. So stellt V. die tiefgründige, kluge Frage, ob Georgs Kirchenpolitik politische Perspektiven besessen habe, ob Luthers Reformation für die Zeitgenossen tatsächlich die einzige denkbare »Antwort auf die Probleme der Zeit« war und ob die »Evangelische Bewegung wirklich unaufhaltsam« war.
Eine solche Frage stellt sich in die Nähe der heute zwar zunftmäßig nicht voll anerkannten, aber doch hinreichend bekannten Überlegungen zu ungeschehener, zu »konjunktivischer Geschichte«, die einem Satz Nietzsches von 1875 zufolge »gerade die kardinale Frage« sei. In der anzuzeigenden Schrift sind derartige Überlegungen nicht beabsichtigt, ergeben sich aber im Anschluss an das erklärte Anliegen, einem nicht tatsächlich geschehenen, aber an­gestrebten und daher denkbaren Vorgang nachzugehen. Die Alternative »Reform statt Reformation« dient als Ansatzpunkt für Überlegungen, Möglichkeiten und Entwicklungen fern von der Wirklichkeit, die aber im Blick auf eine Anwendung ausgelotet werden. Von dieser Denkebene ausgehend entwirft V. in einem großartigen Gemälde eine Art von Begleitmusik zur Kirchenpolitik Herzog Georgs und geht dabei auf alle in Frage kommenden Themen ein.
Georgs Kirchenpolitik wird im Blick auf Landesherrschaft, landesherrliches Kirchenregiment und Kirchenreform neu durchdacht und über Spätmittelalter und Reformationszeit hinweg verfolgt. Das lutherische Kirchenregiment und die Bemühungen um die Kirchenreform vor dem Auftreten Luthers werden zum Vergleich mit den eigentlichen Vorgängen der Reformation beleuchtet, um die Kontinuität über die Epochengrenze hinweg deutlich zu machen. Über die Tradition wettinischer Kirchenreform werden von der Kurie bis hinab zur Welt der Laien Beobachtungen zu­sammengetragen. Die Persönlichkeit Georgs als Fürst erfährt eine Würdigung. Die Beziehungen des sächsischen Herzogs zur Kurie, zum Kaiser und zum Reich werden dargestellt. Die Ebenen kirchlicher Tätigkeit von den Bischöfen und den Domkapiteln über die geistliche Gerichtsbarkeit und den Regular- und Niederklerus bis zu den Laien und der vorreformatorischen Öffentlichkeit werden insgesamt und anhand von Fallbeispielen behandelt. Über die altbekannte Feindschaft zwischen Herzog Georg und Martin Luther werden neue Tatsachen aufgeführt, die herzoglichen Maßnahmen gegen das aufkommende Luthertum im Herzogtum werden mit der Bücherzensur und der herzoglichen Propaganda angeführt. Allenthalben ist jedoch die Absicht zu spüren, dem in seinem tiefen christlichen Glauben verankerten Georg gerecht zu werden und ihn auch in seiner objektiven Gegnerschaft zur Reformation als einen subjektiven Streiter für die Kirche zu verstehen. So wird die Kenntnis um das Reformationsgeschehen um wesentliche Tatsachen erweitert und ein gutes Stück Reformationsgeschichte in neuer Beleuchtung dargeboten.