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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

717–718

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Mentzel-Reuters, Arno u. Hartmann, Martina [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. X, 249 S. 8° = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 45. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-149609-7.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Wenn für die Flaciusforschung eine »eigentümliche Zweiteilung … in einen mediävistisch-philologischen und einen eher geistes- und kirchengeschichtlichen Strang« konstatiert werden muss (21), so ist dies eine notwendige und forschungsstrategisch sinnvolle Konsequenz aus der Tatsache, dass mit dem Plausibilitätsverlust der reformatorischen Theorie der Wahrheitszeugen das integrierende Element der vielfältigen wissenschaftlichen Leistungen des Flacius und der Zenturiatoren dahingefallen ist. Gleichwohl wäre mitunter ein intensiverer Dialog zwischen beiden Forschungsrichtungen wünschenswert, und sei es in der Buchbindersynthese eines Ta­gungsbandes.
Der vorliegende Band versucht das nicht. Die Herausgeber, die beide – als Leiter von Bibliothek und Archiv bzw. als ehemalige Wissenschaftliche Mitarbeiterin – den Monumenta Germaniae Historica verbunden sind, bedienen mit ihrer Themenauswahl fast ausschließlich die mediävistisch-philologische Forschungsrichtung. Die im Untertitel beanspruchte Interdisziplinarität meint das Zusammenwirken von Mediävisten, Germanisten und Mittellateinern; immerhin stammt aber je einer der zehn Beiträge von einem Frühneuzeithistoriker (M. Pohlig) und von einem Theologen (R. E. Diener). Der Sammelband dokumentiert im Wesentlichen ein Münchener Symposium von 2006, das am Ende mehrjähriger Forschungen der Herausgeber stand, aus denen u. a. die Habilitationsschrift von M. Hartmann (Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, 2001), die verdienstvolle Digitalisierung der Magdeburger Zenturien (http://141.84.81.24/ digilib/centuriae.htm [22.12.2008]) und eine 2005 zum Magdeburger Stadtjubiläum konzipierte Ausstellung hervorgegangen sind.
Drei Beiträge sind Person und Wirken von Flacius gewidmet. M. Hartmann würdigt in ihrem Überblicksaufsatz (1–17) die Magdeburger Zenturien als den »Beginn quellenbezogener Geschichtsforschung« und als wesentlichen Beitrag zur Sicherung der mittelalterlichen Überlieferung. Dabei bleiben wichtige kirchengeschichtliche Aspekte – etwa die Prägung des Flacius durch seinen Lehrer Me­lanchthon und der Zusammenhang zwischen den historischen Arbeiten und dem kirchlich-theologischen Anliegen der Gnesiolutheraner (2 f.) – unterbelichtet; sicher war es auch nicht seine kroatische Herkunft, die Flacius bei vielen Lutheranern verhasst machte (gegen 15).
In einem – später entstandenen – Aufsatz zeigt M. Pohlig gegen die geläufige (und auch in fast allen anderen Beiträgen des Bandes wiederholte) Auffassung, dass Flacius keineswegs als Humanist zu bezeichnen ist (19–25) – gleichviel, ob man den Humanismus formal als Beschäftigung mit den studia humanitatis, inhaltlich über normative Referenzpunkte wie Antike und Nation oder sozialgeschichtlich über ein bestimmtes Selbstverständnis definiert. Zwar entstammen die philologischen und editorischen Techniken des Flacius dem Methodenarsenal des Humanismus, doch sind sie in den Dienst außerhumanistischer theologischer Beweisziele ge­stellt.
Auf Grund von Archivalien des Regensburger Stadtarchivs beschreibt F. Fuchs die Verbindungen des Flacius zu Regensburg (53–63), wo er mit seiner Familie von 1562 bis 1566 lebte; dabei fällt neues Licht auf den Skandal um einen Zinskauf des Flacius vom 20.12.1563.
Zwei weitere Aufsätze des Bandes thematisieren die handwerkliche Faktur der Magdeburger Zenturien. Der Beitrag von R. E. Diener (129–173) ist eine von A. Mentzel-Reuters angefertigte, nicht immer geglückte (z. B. 134: »Damit waren die Vertreter des Interims adiaphora [Unterschiedslose]«) Übersetzung des vierten Kapitels der ungedruckten Dissertation Dieners von 1978, das die verschiedenen schriftlich fixierten Konzepte und Arbeitspläne der Zenturiatoren erörtert und einige der wichtigeren dieser Texte im Wortlaut wiedergibt. Demgegenüber untersucht A. Mentzel-Reuters selbst anhand ausgewählter praktischer Beispiele den Weg der Quellenzeugnisse von der handschriftlichen Überlieferung bis zu ihrer Präsentation im gedruckten Kompendium (175–209).
Die übrigen fünf Beiträge des Bandes sind philologisch-literaturwissenschaftlichen Einzelproblemen gewidmet. Sie stellen durchweg bedeutende Forschungsbeiträge dar, die das Interesse der germanistischen und latinistischen Mediävistik finden werden und vereinzelt auch dem Theologen Anregungen geben können. So beschreiben E. Hellgardt (65–75) und N. Kössinger (77–93) die Stationen der Wiederentdeckung Otfrids von Weißenburg und seines Evangelienbuchs von Trithemius bis zur Basler Edition des Flacius 1571. P. Orth untersucht die dritte und umfangreichste der von Flacius herausgegebenen Anthologien mittellateinischer Gedichte, die »Varia doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata« (1557), die als flankierende Quellensammlung zum »Catalogus testium veri­tatis« gedacht war, und ediert daraus die früher fälschlich dem Müns­teraner Kanoniker Bernhard von der Geist zugeschriebenen »Dialogismi« (95–127). M. Hartmann ediert die »Collectio contra haereticos et de privilegiis multarum sedium« aus einer Baseler Zenturiatoren-Handschrift, die sie als ein bislang unterschätztes, authentisches Werk Hinkmars von Reims identifiziert (211–231). A. Mentzel-Reuters untersucht die Echtheitskritik der Zenturiatoren an den der Sammlung der Pseudoisidorischen Dekretalen vorangestellten apokryphen Clemensbriefen, die die Bearbeiter zur Verwerfung des gesamten Korpus veranlasste (233–242).
Insgesamt liefert der Band mit sorgfältigen Einzelstudien und zwei Neueditionen mittelalterlicher Quellen wertvolle Beiträge zur philologisch-literaturwissenschaftlichen Forschung. Für den Theologen und Kirchenhistoriker bleiben dagegen manche Wünsche und Fragen offen.