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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

711–714

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Mimouni, Simon Claude et Maraval, Pierre

Titel/Untertitel:

Le Christianisme. Des Origines à Constantin.

Verlag:

Paris: Presses Universitaires de France 2006. CXLIII, 528 S. 8° = Nouvelle Clio. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-2-13-052877-7.

Rezensent:

Folker Siegert

Dass ein jüdischer Forscher die Ursprünge des Christentums erkundet, ist neu, zumal seit dem gewaltsamen Ende jener fruchtbaren jüdisch-christlichen Konkurrenz auf dem Gebiet der Religions- und der Altertumswissenschaften, wie sie in unserem Lande bis zur Schoa bestand. Man darf sich von der hier anzuzeigenden Veröffentlichung neue Einblicke in eine sonst ja viel traktierte Materie erhoffen.
Simon Claude Mimouni, Directeur d’études an der École Pratique des Hautes Etudes und dort befasst mit »Ursprüngen des Chris­tentums«, legt hier die Summe einer über zehnjährigen Forschungs- und Publikationstätigkeit vor, die insbesondere dem heute eher vergessenen und verdrängten Judenchristentum galt, einem in mehrerer Hinsicht heiklen Thema. Das letzte Drittel des Buches (313–455) stammt von Pierre Maraval, Emeritus der Sorbonne und bekannt durch zahlreiche Arbeiten, auch Editionen, auf dem Gebiet der großen Kirchenväter und durch seine Mitarbeit an der Biblia Patristica. Eine Liste der Monographien beider Autoren folgt direkt nach dem Titelblatt. Die Widmung aber gilt André Benoît und Pierre Geoltrain: Beide Namen stehen für eine vor­urteilsfreie, keine religiösen Thesen verfolgende Geschichtsforschung. Unmittelbares literarisches Vorbild ist eine Arbeit des­selben André Benoît zusammen mit Marcel Simon (auch er ein Vorbild an Forschergeist und Neutralität) von 1968. So beginnt nun also auch in Frankreichs »Laizität« die Geschichtsforschung auf höchster akademischer Ebene sich mit Jesus zu beschäftigen.
Mimounis Hypothese ist, dass nach dem Jahre 70 die Auseinanderentwicklung des einst schon vielfältigen Judentums in christliche und rabbinische Richtungen nur sehr allmählich erfolgte. Konflikte sind hier noch keine Trennung (wie sonst im Judentum auch nicht), und Theologie (auf christlicher Seite) bzw. Halacha (auf jüdischer) ist noch nicht identisch mit dem, was im gelebten Leben empfunden und entschieden wird. Die literarischen Quellen werfen bekanntlich ganz andersartige Schlaglichter auf die Verhältnisse als etwa die Funde an den Begräbnisstätten. – Mimouni sieht eine Trennung von Juden- und Christentum erst um das Jahr 135 (nach dem Bar-Kochba-Aufstand) gegeben, mit einem Nachleben des marginalisierten Judenchristentums bis ins 4. Jh.
Zur Struktur des Buches: Eine – gut ausgewählte, durchnummerierte – Bibliographie geht dem Gesamtwerk voraus (XI–CXLIII; ab CXI von Maraval); ihr gilt ein eigenes Inhaltsverzeichnis (509–511). Das ist vielleicht gewöhnungsbedürftig, erspart aber dem weiteren Werk fast gänzlich die Anmerkungen. In der Auswahl der Literatur werden andere als neusprachliche Kenntnisse nicht vorausgesetzt; unter »Bibel« stehen lediglich fünf französische Übersetzungen. Urtexte und Septuaginta (nebst der weit gediehenen Übersetzung der Letzteren ins Französische) finden sich erst später angegeben (XIV), Synopsen des Neuen Testaments auf S. XV, Ausgaben (Rekonstruktionen) der Quelle Q erst auf S. LVIII f. – Hinter S. 504 folgen drei Karten, danach ein 20 Seiten langes Inhaltsverzeichnis, das – nach traditionell-französischer Manier – die Register ersetzen soll (aber doch nicht kann). Ein Stellenregister wäre hier Gold wert gewesen. – Das Buch ist leider, wie in Frankreich fast immer, nur eine Broschüre, aber sehr schön und scharf gedruckt. Die Sprache (wer’s zu genießen versteht) ist bestes literarisches Französisch.
Zum Inhalt: Die »politische und religiöse« Einleitung (1–39), eine Schilderung der politischen und geistigen Situation des 1. und 2. Jh.s, ist meisterhaft. Trotz äußerer Stabilität, zumal unter Hadrian und Antoninus Pius, ist in den paganen Texten wachsende Unruhe spürbar infolge des Ungenügens der traditionellen Religion. So schildert S. 8 beredt ein von der Politik nicht mehr befriedigtes Heilsbedürfnis. Das Christentum tritt in dieser Situation auf als eine »orientalische Religion, Heilsreligion und universalistisch – mit Initiation (Taufe) und Mysterium (Eucharistie).« In dieser Hinsicht wäre jene andere missionarische Religion der Antike, die der Isis (die dann letztlich, aber viel später, aufging in Marienverehrung), einen Vergleich wert gewesen; doch ist schon der Abschnitt »pagane Quellen« im Literaturverzeichnis in dieser Hinsicht undifferenziert. Eher wird gelegentlich ein Blick auf die Gnosis geworfen.
»Des Weiteren«, lesen wir vom Christentum dann auf S. 8, »verlangt es die Liebe zu einem einzigen Gott (dem Gott Israels), verkündet einen Heiland (Jesus von Nazareth) und verspricht ein seliges Nachleben (Auferweckung). Und schließlich, es stützt sich auf eine sehr alte Tradition, da es sich auf das Judentum (die Bibel) aufpropft.« – In diesem Zusammenhang meint »Bibel« ja noch immer die jüdische Bibel; die Entstehung der christlichen wird auf S. 85–88 und 388–391 skizziert. Was die Vorstufen der kirchlich redigierten Schriften betrifft, so erlaubt sich Mimouni, als Historiker mit der Quelle Q zu arbeiten; die immer noch delikate Frage der Quellen des Johannesevangeliums lässt er unberührt. Kriterien der Frage nach dem historischen Jesus werden dargestellt, wobei Mimouni sogar das Differenzkriterium zulässt (89): Jesus muss nicht im Ju­dentum seiner Zeit aufgehen.
Eine Testfrage an jede Geschichte des Urchristentums ist nun die, wie es zu jener heftigen Trennung und Feindschaft zwischen Juden- und Christentum kommen konnte, welche die Quellen schon des 2. Jh.s durchzieht. Eine erste Antwort ist von dem Ab­schnitt über Jakobus, den Bruder Jesu, zu erwarten (162–173). Wie sehr dieser die Mission des Paulus behinderte (bis da hin, dass er die Kollekte der Heidenchristen, gedacht als Solidaritätsgabe, ablehnte – nichts anderes besagt doch die Umwidmung in Apg 21,20–26), wird nicht problematisiert, auch nicht auf S. 206, wo das Augenmerk nochmals dorthin gerichtet wird. So ist auch die Chance verpasst worden, Etienne Nodets These zu testen: »Jakobus, der Bruder Jesu, war nie ein Christ« – denn alles, was wir an Aktivitäten von diesem Mann, zubenannt »der Gerechte«, erfahren, zielt auf die Einhaltung der Tora. In Gefahr brachte er sich durch die Behauptung, sein Bruder sei auferstanden.
Die Gelegenheit einer vorkirchlichen Wahrnehmung der Verhältnisse wird auch dadurch verschenkt, dass der Rezeptionsgeschichte der betreffenden Traditionen, sowohl der großkirchlichen wie der gnostischen, umso breiterer Raum gewährt wird. Als Historiker hätte man doch die völlige Wertlosigkeit der (sei es judenchristlichen, sei es gnostisch-christlichen) Apokryphen zugeben können; aber diese haben mo­mentan eine begierige Leserschaft. Gibt es denn irgendeine apo­kryphe Schrift christlicher Provenienz, angefangen von dem um­geschriebenen Lukasevangelium und der Apostelgeschichte in Codex D oder dem umgeschriebenen Matthäusevangelium des Codex Schøyen, die irgendwelche historischen Kenntnisse aus dem 1. Jh. verriete? Der vorchristliche Jesus, nach dem heute das Publikum verlangt, wäre nicht aus den Apokryphen, sondern, wenn schon, aus den vorkanonischen Bestandteilen der Evangelien (Quelle Q; Johannes-Quellen) zu gewinnen gewesen.
Verdienstlich und jedenfalls verständnisvoll ist der Paulus-Ab­schnitt (193–208). Der Zorn des frühen Paulus gegen das (oder: sein) Judentum in 1Thess 2,13–16 wird zurückgenommen zu Guns­ten der konzilianteren Haltung, die er im Römerbrief ausdrückt (198). Freilich, die Nachricht des Hieronymus (Vir. ill. 5,1 u. ö.), wonach die Familie des Paulus ursprünglich aus dem galiläischen Zelotennest Giskala stammte, von wo sie von den Römern vertrieben worden sei (das macht den ursprünglichen Pharisaismus des Paulus ja mit dem militanten Pharisäerflügel eines Sadok vergleichbar), hätte auf den Seiten, welche die Haltung des Paulus zur Tora darstellen (200–202), wenigstens zu einer Problemanzeige dienen können.
Direkt vor Paulus aber, auf S. 187–192, wird das griechischsprachige (insofern hellenistische) Christentum eines Stephanus (Apg 6) einem Gesetzesrigorismus à la Mt 5,17 kontrastiert. Hier oder nicht viel später hätte gesagt werden sollen, dass ein solcher Rigorismus auch eine konkrete Halacha erfordert. 267 f. geht endlich unter der Überschrift »Der Konflikt der Observanzen« auf diese Frage ein, vergisst aber die Didache zu erwähnen, die doch in vieler Hinsicht die vom Mt-Evangelium geforderte Halacha, also die konkrete Gesetzespraxis, präzisiert (nicht freilich im Hinblick auf die wohl allzu neuralgische Frage der Beschneidung). Überhaupt fehlt die Didache in derjenigen Übersicht, die das Kapitel V (209–229) über die Christentümer des späten 1. Jh.s gibt. Immerhin findet sich im Zuge einer Darstellung innerchristlicher Konflikte (202–207) die durchaus korrekte Auskunft, dass zwischen Juden- und Heidenchristen, zwischen Anhängern des Jakobus und solchen des Paulus keine Einigkeit erzielt werden konnte, nach welchen rituellen Erfordernissen (der Reinheit nämlich) man sich zu gemeinsamen Essen an den Tisch begab; der Konflikt von Antiochien (Gal 2) blieb bestehen. Danach können wir nur noch unterschiedliche Christentümer sich auseinanderentwickeln sehen – wie vorher, vor 70 n. Chr., die Judentümer verschieden gewesen wa­ren.
Wie sehr das mehrheitliche Christentum sich dann doch zu einigen verstand, erfahren wir aus den von Pierre Maraval verfass­ten Schlussteilen des Buches, die dem 3. Jh. gewidmet sind. Dieser Teil ist wohl etwas harmonischer geraten als zu erwarten gewesen war. So erfährt man auf den Seiten 437–440, die dem eucharistischen Ritus gewidmet sind, nicht einmal, dass das »Passa«-Fest der johanneischen Gemeinden, woraus der immerhin hundertjährige Quartodezimanerstreit entstand, die ältere Alternative zur Eucharistie (wie Eusebius, H.e. 5,23 immerhin noch wusste) im paulinisch geprägten Christentum war. Immerhin, wie unterschiedlich die einzelnen Theologen dachten, von denen wir Schriften haben, wird gut herausgearbeitet. Aus diesem Schlussteil resultiert ein klares Bild der vorkonstantinischen katholischen Christenheit, nebenbei auch ein ebenso klares der diversen Strömungen der Gnosis (letzteres, natürlich kürzer, 365–379). – Die letzte Anmerkung des Buches (504) kündigt eine Fortsetzung an.
Zu gratulieren ist beiden Autoren für die Bewältigung einer gewaltigen Stoffmasse. Die Darstellung ist stets übersichtlich und deutlich, und man verliert, auch wo Details geboten werden, nie die Übersicht.

Die Details sind es natürlich auch, worin, wie das Sprichwort sagt, der Teufel steckt. Auf S. 142 wird »das Buch Henoch« zitiert (1Hen), ohne Differenzierung seiner Teile, wo doch die Kapitel 36–72, von denen kein einziger Satz in Qumran belegt ist, jedenfalls später und wohl eher christlich sein dürften: Von hier aus auf Jesus zurückzuschließen (was leider oft gemacht wird, etwa zur Menschensohn-Frage), führt in den Zirkel. Auf S. 148, Rubrik B 3, hätte unbedingt 4Q246 erwähnt werden sollen, jener »Gottessohn«-Text, der mehrfach schon durch die Weltpresse ging und über dessen Deutung (als Spott auf einen Hasmonäer, mithin als politischer Kontrast) doch wohl inzwischen Klarheit herrscht. Und schließlich, die Gebetsanrede »abba« (149) ist nicht »allgemeine Sprache« des jüdischen Gebets und war es zu keiner Zeit. Für hebräisch avi(nu) gibt es Belege, für abba nicht. Ein Proprium Jesu ist hier übersehen worden: sein geradezu kindliches Gottesverhältnis. Mimouni mag ja Recht haben, wenn er die These abwehrt, Jesus sei sich einer Gottessohnschaft (nach welcher Definition auch immer) bewusst gewesen. Solange das als theologisches Postulat vorgetragen wird, geht es den Historiker nichts an. Hier aber liegt eine philologische Beobachtung vor, die nicht gleich – wie etwa der Kyrios-Kult – ins Urchristentum führt. Dieses Gebet ist Jesus zuzutrauen. Die Ausbildung christlicher Lehre beginnt, zugegeben, erst nach ihm.