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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

706–708

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ephraem der Syrer, Hrsg. v. Ch. Lange.

Titel/Untertitel:

Kommentar zum Diatessaron.

Verlag:

Turnhout: Brepols 2007. 2 Teilbde. Teilbd. 1: 366 S.; Teilbd. 2: VIII, S. 367–698. 8° = Fontes Christiani 54/1 u. 54/2. Kart. je EUR 37,29. ISBN (Teilbd. 1) 978-2-503-51974-6; (Teilbd. 2) 978-2-503-52869-4.

Rezensent:

Jobst Reller

Mit dem Kommentar Ephraems des Syrers (ca. 306–373 n. Chr.), des Lehrers an den Schulen von Nisibis (heute Nusaybin) und Edessa (heute Urpha) und berühmten Hymnendichters der syrischsprachigen Kirche, der »Harfe des Geistes«, wie man ihn poetisch nannte, zur Evangelienharmonie des sog. »Diatessaron« wird zweierlei einem breiten deutschsprachigen Leserkreis erschlossen: zum einen die frühe Welt der syrischsprachigen Christenheit, die mit der aramäischen Kirchensprache von Edessa aus bis 900 n. Chr. bis China wirkte und in der Zeit der Kreuzzüge im 12. und 13. Jh. noch einmal eine Renaissance erlebte, zum andern eine nur in Fragmenten erkennbare Schrift des Syrers Tatian (um 172 n. Chr.), die den kanonisch werdenden vier Evangelien ein Evangelium gegenüberstellte. Und hier gilt: »Der vom Diatessaronkommentar benutzte Bibeltext ist zunächst einmal das Diatessaron Tatians in seiner syrischen Fassung« (106). Die vorliegende Textausgabe in Übersetzung ist in höchster Sorgfalt gefertigt und lässt allerorten spüren, dass der Herausgeber die Ergebnisse seiner großen Studie »The Portrayal of Christ in the Syriac Commentary on the Diatessaron (CSCO 616/ Subs. 118; Löwen 2005) voraussetzen und verarbeiten konnte. Ein umfassendes Verzeichnis der Literatur, Register der Bibelstellen, Personen (Bibel, Antike/Mittelalter, Moderne) und Sachen schließen die Ausgabe hervorragend auf.
Die zunächst sehr breit erscheinende Einleitung zu Leben und Werk (9–119), die den neuesten Forschungsstand repräsentiert, wird im Nachhinein gerechtfertigt, weil nur ein weit reichendes Geflecht von Argumenten verschiedener Provenienz hilft, Ge­sichtspunkte für die Datierung und die Verfasserfrage des Werkes zu finden. Während Ephraem in seinen frühen Schriften aus Nisibis eine an die Synode von Antiochien 341 n. Chr. erinnernde Lehre von der Trinität der drei Namen des wahrhaft seienden einen Gottes vertritt (Serm. de fide 2,583–588), findet sich in seinem Kommentar zur Genesis (1,5) aus der edessenischen Zeit nach 363 n. Chr. die syrische Übersetzung des Schlüsselbegriffs des Konzils von Nizäa 325 n. Chr., von der Homousie.
Der Kommentar zum Diatessaron war in einer armenischen Version mit lateinischer Übersetzung seit 1836 bekannt. James Rendel Harris publizierte 1895 syrische Zitate aus der Schrift, Ches­ter Beatty entdeckte schließlich Zug um Zug mehr Blätter der einzigen ziemlich vollständig erhaltenen syrischen Handschrift Nr. 709 (nach paläographischen Indizien zwischen 400 und 450 [52], bzw. 480–500 n. Chr. [75] geschrieben und später Teil der Bibliothek des Syrerklosters im Wadi Natrun). Das Lebenswerk des franzö­sischen Orientalisten Louis Leloir galt dieser Schrift. Leloir konnte nach einer ersten Neuedition des armenischen Textes 1953 im Jahr 1963 die damals bekannten Teile von Chester Beatty 709 edieren und in das Lateinische übersetzen, bzw. 1984 weitere 42 Blatt der Handschrift hinzufügen, so dass heute 80 % des Kommentars bekannt sein dürften, nämlich Kapitel 1–22 nach einer Schätzung in der englischen Übersetzung von McCarthy (1993). Die größte, nur durch Rück­griff auf die armenischen Texte zu schließende Lücke im syrischen Kommentartext besteht für Kapitel 18,3–21,3 (64). Bedauerlich ist, dass das erste Blatt der Handschrift mit der Zuweisung der Schrift an Ephraem bis heute verschwunden blieb und nur aus der zum Teil schwer deutbaren armenischen Übersetzung erschlossen werden kann. Auch die sorgfältige und gut verständliche deutsche Übersetzung von Lange basiert auf der Textausgabe von Leloir und gibt auch die sicher nicht ursprünglichen Anmerkungen »Gebete« und »Evangelist« im Anhang in Übersetzung wieder.
Das Diatessaron wurde in der syrischsprachigen Kirche weithin bis um 400 n. Chr. als die gottesdienstliche Fassung des Evangeliums gelesen. Bischof Theodoret von Cyrrhus (423–457 n. Chr.) will wie Bischof Rabbula von Edessa (412–435 n. Chr.) um 425 n. Chr. noch 200 Exemplare der Harmonie durch die kanonischen vier Evangelien ersetzt haben. Theodoret wandte sich besonders gegen den Eingriff Tatians, der im Diatessaron alle Bezüge von der fleischlichen Abstammung Jesu von David her, also aus dem Judentum, getilgt habe. Am Kommentartext lässt sich dies nun wieder nicht belegen, hingegen eine entgegengesetzte Aussage wie in der Vetus Syra des Neuen Testaments, dass nämlich nicht nur Josef, sondern auch Maria von David abstammten (148 u. ö.; vgl. aber 60). So entzieht sich nicht nur an dieser Stelle der hochinteressante Text einfachen Schlussfolgerungen. Immerhin ist auffällig, dass das syrische Diatessaron dieses Kommentars wie das von Ciasca herausgegebene arabische und das von Messina edierte persische mit dem Prolog aus Joh 1 begonnen hat. Zwar wird das seit dem Fund 1933 in Dura Europos bekannte griechische Fragment einer Evangelienharmonie von Parker, Taylor und Goodcare (1999) nicht mehr dem Diatessaron, sondern einer anderen Harmonie zugewiesen (46), dennoch steht die Erforschung der Nachwirkung dieses Diatessaron nicht nur im Orient, sondern auch bis in germanische Sprachen etwa im Heliand noch am Anfang.
Nachdem der Nestor der deutschen Ephraemforschung Ed­mund Beck 1983 erste Zweifel an der Echtheit des Werkes geäußert und das Werk einem Schülerkreis Ephraems zugewiesen hatte, fanden sich durch Vergleich mit sicher authentischen Schriften Ephraems weitere Belege dafür, dass die vorliegende Handschrift in ihrer Endgestalt der Redaktion des Schülerkreises entstammt. Gegenüber der armenischen Fassung überschließende syrische Texte sind nach Lange sekundär (62). Lange folgert, dass sowohl die syrische wie die armenische Textfassung redaktionell überarbeitet sind, aber auch der Urtext bereits sekundäre Einschübe aufweist, bzw. Textstücke am falschen Ort eingeordnet wurden (66 f.). Lange schließt: »Es scheint vielmehr so, als habe ein Schüler echte Stü­cke Ephraems oder Mitschriften aus seinen Vorlesungen mit eigenem Gedankengut angereichert und diese als Urtext (U) des Dia­tessaronkommentars herausgegeben.« (73) Insofern als der Kom­mentar in 19,15 (nur armenisch) und 1,5 das Konzil von Konstantinopel 381 n. Chr. mit der Rede von der einen Natur (eigentlich ein Wesen) in drei Hypostasen und die Göttlichkeit des Geistes voraussetzt, ist Lange geneigt, den vorliegenden Text in die Nähe des Wirkens von Simeon bar Sabbae, also in die Zeit von 380 bis 400 n. Chr. zu datieren (77.80). Die Anmerkung zum Thema »Gebete« setzt zudem die Vertreibung der Gemeinde aus Edessa durch Kaiser Valens 373–378 n. Chr. voraus. Lange erhebt nun Besonderheiten der Christologie und Trinitätslehre des Kommentars, kommt einerseits zu dem Schluss, dass die Schüler deutlich in Kontinuität zu Ephraem stehen, etwa in der signifikanten typologischen Auslegungsmethode oder auch in der Bevorzugung des Glaubens vor der rationalen Forschung (104), andererseits aber ›neunizänisch‹ in ihrer genauen Fachkenntnis der griechischsprachigen theologischen Diskussion auch über ihn hinausgehen. Der Kommentar dokumentiert sy­rischsprachigen theologischen Schulbetrieb in der Hochphase trinitarischen und christologischen Streits, in der auch Anfeindungen von Gegnern der Theologie Ephraems und seiner Schüler widerlegt werden: Marcionitische Behauptungen über eine Scheinleiblichkeit und Nichtgeschöpflichkeit Jesu, aber auch jüdische Bestreitungen der Geburt des verheißenen Messias in Jesus von Nazareth (116).
Derartig tiefschürfende Forschung an komplexer Überlieferung macht Kritik trotz mancher kleiner Ungereimtheiten fast unmöglich, etwa an der Übernahme der widersprüchlichen Datierung von Chester Beatty 709 bei Leloir (s. o.: 1. Hälfte 5. Jh. oder 480–500?). Möglicherweise hätte ein Blick auf die bei Hatch, An Album of dated Syriac Manuskripts (1946), zusammengestellten Vergleichs­manuskripte hier ein sichereres Urteil erlaubt, das das einzig erhaltene Ma­nuskript sehr nah an die vermutete Abfassungszeit heranrücken würde. Die Fülle des historischen und theologischen Vergleichsmaterials ist beeindru­ckend, beim Vergleich mit den eigentlich exegetischen Werken sowohl syrischer als auch griechischer Provenienz ist allerdings nur Johannes Chrysostomos, Homiliae in Matthaeum, genannt. Reller, Mose bar Kepha und seine Paulinenauslegung (GOF IS 35, Wiesbaden 1994, 184–200) hatte bereits darauf aufmerksam gemacht, dass im Paulinenkommentar Ephraems in der armenischen Übersetzung aus dem frühen 5. Jh. Traditionsstücke aus Alexandria und Antiochia verarbeitet zu sein scheinen. Gen 3,5 und Röm 8,22 scheinen im Kommentar zu Röm wie zum Diatessaron, aber auch im Stufenbuch und bei Mose bar Kepha († 903 n. Chr.) signifikant von der Adam-Christus-Typologie her verbunden zu sein. Man vergleiche auch die angeführten Beobachtungen Becks, Leloirs oder auch de Halleuxs zu Berührungen zwischen Chrysostomos und dem Diatessaronkommentar in der Perikope von den Magiern (173.175 f.219.330). Nicht zuletzt mag daran erinnert werden, dass nach einer Überlieferung Bibelausleger wie Chrysostomos und Theodor von Mopsuestia in Syrien dasselbe Asceterium geteilt haben sollen – nicht weit vor der vermuteten Abfassungszeit des Kommentars in Edessa. Zur Geschichte der Exegese wird die Textausgabe jedenfalls noch ausstehende zukünftige Forschung erheblich erleichtern.