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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

704–706

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Abbattista, Ester

Titel/Untertitel:

Origene legge Geremia. Analisi, commento e riflessioni di un biblista di oggi.

Verlag:

Roma: Editrice Pontificia Università Gregoriana 2008. 351 S. gr.8° = Tesi Gregoriana. Serie Teologia, 159. Kart. EUR 27,00. ISBN 978-88-7839-114-7.

Rezensent:

Andrea Villani

Das Buch ist aus einer wenig überarbeiteten Dissertation heraus entstanden, die im Juli 2007 im Fachbereich »Biblische Theologie« an der Pontificia Università Gregoriana in Rom verteidigt wurde. A. ist, wie sie selbst bestätigt, eine Bibelwissenschaftlerin, die aus der Exegese eines Kirchenvaters neue, oder besser gesagt, alte Perspektiven für die gegenwärtige biblische Auslegung gewinnen möchte (7). Dieser Versuch, sich den heutigen Tendenzen zu entziehen, insofern sie sich zu einer immer größer werdenden Spezialisierung verengen, ist sicherlich positiv zu begrüßen.
Die Untersuchung setzt sich aus zwei Hauptteilen zusammen: Der erste bietet eine ausführliche Untersuchung der einzelnen Jeremiashomilien, in der A. die Hauptlinien der origeneischen Ar­gumentation verdeutlicht, ohne die Spannungen, die manchmal durchscheinen, zu verbergen. Allerdings ist hier anzumerken, dass es bei diesem Verfahren nicht immer gelingt, das Risiko zu vermeiden, in eine bloße Paraphrase der origeneischen Homilien zu fallen.
Die umfangreichen Fußnoten stellen vor allem die Interpretationen der verschiedenen Übersetzer der HomIer vor, wobei die Ar­beit von Schadel (BGL 10, 1980), aber auch diejenige von Nautin (SC 232.238, 1976.1977) bevorzugt werden. Auf diese Weise hat man an jeder schwierigen Stelle stets den status quaestionis vor Augen, auch wenn nicht immer ganz deutlich wird, mit welcher Meinung A. übereinstimmt. Zuweilen würde man sich außerdem auch die Vertiefung von besonders relevanten Themen wünschen. Um zwei Beispiele zu geben: Warum spricht A. nur von einer graduellen Exegese und sagt gerade an einer Stelle, wo Origenes das Thema der geistigen Augen behandelt, gar nichts über die geistigen Sinne (81f.)? Oder warum wird niemals auf die prosopologische Exegese hingewiesen, obgleich sie ein Grundprinzip der origeneischen Auslegungspraxis bildet (vgl. z. B. Neuschäfer, Origenes als Philologe, Basel 1987, 263–276)?
Ein Verdienst dieses Abschnittes ist allerdings darin zu sehen, dass jeder winzige Unterschied zwischen dem von Or. zitierten biblischen Text und demjenigen der LXX und des TM sorgfältig festgehalten wird, vor allem weil die Editoren oder die Übersetzer den Leser nicht immer darauf aufmerksam machen. Auf diese Weise entdeckt man, dass nicht selten der origeneische Text einige Lesarten bietet, die sich nur im TM finden (das geschieht vor allem in der Homilie XIX, 231–243).
Lobenswert ist auch die Berücksichtigung der jüdischen Auslegung, stets präsent als Vergleichsbasis, was zuweilen zu neuen Erkenntnissen führt (s. z. B. 135, Anm. 46, wo gezeigt wird, dass die origeneische und die rabbinische Interpretation von gemeinsamen Meinungen ausgehen, auch wenn sie sich diametral entgegengesetzt entwickeln), was uns Origenes’ Vertrautheit mit der rabbinischen Exegese bewusster macht.
Im zweiten Abschnitt, dem exegetischen und hermeneutischen Ansatz vorbehalten (263–307), bietet die Rekonstruktion der Struktur der origeneischen Homilien eine Gliederung für die eigenen Reflexionen von A. Von besonderem Interesse sind ohne Zweifel die Seiten über die Textkritik, wo Or. allerdings ambivalent behandelt wird: Während er einerseits für seine theologisch interessierte Philologie kritisiert wird (268), offensichtlich weil hier Philologie im modernen Sinnen gemeint ist, wird andererseits seine »wissenschaftliche« Textbehandlung als modern gewürdigt (273, wo A. zu Recht der Meinung von M. Harl folgt; merkwürdigerweise wird hier auf die fundamentale Studie von Neuschäfer – die an anderer Stelle erwähnt ist – gar nicht eingegangen). Interessant sind auch die der Hermeneutik gewidmeten Beobachtungen, wo das Auslegungsverfahren von Or. ausführlich behandelt wird. Nicht be­sonders deutlich wird jedoch die beanspruchte Unterscheidung der geistigen Auslegung in anagogischen, spirituellen, figuralen bzw. mystischen Sinn usw. Wenn unbedingt die origeneische Terminologie beibehalten werden muss, sollte man versuchen, die Begriffe in eine breitere und klarere hermeneutische Kategorie einzuordnen, damit der mit Or. wenig vertraute Leser zu einem besserem Verständnis gelangen kann.
Trotz solcher Einschränkung enthält dieser Abschnitt auch bemerkenswerte Beobachtungen, z. B. im Absatz über die hermeneutischen Regeln, wobei wiederum die originellsten Schlussfolgerungen – wenn auch oft nur in den Fußnoten enthalten – aus dem Vergleich mit der jüdischen Literatur stammen, was wohl auf die biblische Ausbildung A.s zurückzuführen ist (s. z. B. 276, Anm. 31, wo der Einfluss der griechischen Rhetorik – im Text verschwiegen– und der rabbinischen Exegese auf Or. nachgewiesen wird).
Viel Raum wird zu Recht dem Thema der göttlichen Kondeszendenz (gr. synkatabasis) auch im hermeneutischen Sinne gewährt: Es handelt sich nämlich um einen der fruchtbarsten Begriffe des theologischen bzw. exegetischen Denkens des Or. A. betont hier mittels entsprechender Beispiele die Ähnlichkeit mit einigen jüdischen Überlegungen (291–293).
Knappe methodologische Schlussbeobachtungen (309–316) be­fassen sich zuerst mit der Überlegung, inwieweit die alte Exegese ein Vorbild für die moderne sein kann: Nachdem festgestellt wurde, dass die origeneische und die zeitgenössische Bibellektüre sich vor al­lem im hermeneutischen Horizont voneinander unterscheiden, versucht A., einige offene Fragestellungen zu vertiefen, die sich 1. mit der Unterscheidung zwischen Exegese und Hermeneutik, 2. mit dem hermeneutischen Horizont selbst und 3. mit dem Problem der »Wissenschaftlichkeit« beschäftigen. In diesem Zusam­menhang stellt A. eine siebenteilige Gliederung vor, die ein Vorbild für die moderne hermeneutische Arbeit darstellen könnte. Darauf folgen einige Seiten über die lectio divina: Auch hier bietet nach Meinung von A. das origeneische Beispiel die Möglichkeit, eine alte Praxis zu erneuern, um so durch Nachahmung der ständigen Er­forschung der Bibel, wie sie der Alexandriner betrieb, die Gläubigen von heute mit der Heiligen Schrift vertrauter zu machen.
Ein kleines praktisches Glossar liefert die Bedeutungen einiger besonders wichtiger Wörter, vor allem aus dem exegetischen Be­reich. Nützlich wäre jedoch ein Verweissystem zwischen Text und Glossar gewesen, um das Glossar besser nutzen zu können. Nach dem Abkürzungsverzeichnis folgt eine recht ausführliche Bibliographie, die selbstverständlich neben der Literatur zu Or. den biblischen und jüdischen Studien viel Raum gibt; es wäre jedoch sinnvoller gewesen, die alten Quellen und die Sekundärliteratur zu trennen. Besonders zu bedauern ist außerdem das Fehlen eines Indexes der biblischen und patristischen Stellen. – Leider enthält das Buch auch viele Druckfehler, vor allem – aber nicht nur – in den zahlreichen deutschsprachigen Zitaten.
Zum Schluss lässt sich beobachten, dass dieses Werk an Stelle einer – wie man auf Grund des Buchtitels hätte erwarten dürfen – allgemeinen Analyse der Auslegung von Jeremias bei Or., was eine ausführliche Untersuchung aller Zitate in seinem Gesamtwerk verlangt hätte, eine eingehende Erforschung der HomIer liefert, die auch für den patristisch unerfahren Leser auf klare und nutzbringende Weise vorgestellt werden.