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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

699–701

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vegge, Ivar

Titel/Untertitel:

2 Corinthians – a Letter about Reconciliation. A Psychagogical, Epistolographical and Rhetorical Analysis.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XII, 445 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 239. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-149302-7.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Vegges Dissertation von 2001 (Doktorvater war Karl Olav Sandnes, Oslo), die hier in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung vorliegt, versucht nachzuweisen, wovon eine ständig wachsende Minderheit der heutigen Forschung überzeugt ist: 2Kor ist ein einheitlicher Brief. Dabei übersieht V. keineswegs die Schwierigkeiten dieser These. Er bringt die Probleme, die sonst meist zu literarkritischen Operationen führen, auf den gemeinsamen Nenner einer Spannung zwischen Konflikt und Versöhnung. Auf der einen Seite finden sich Textpassagen, in denen das Verhältnis zur Gemeinde völlig wiederhergestellt zu sein scheint (besonders 7,5–16) oder in denen zumindest ein zuversichtlicher, optimistischer Ton vorherrscht (1,13 f.; 2,3; 5,11; 7,4 u. ö.), auf der anderen Seite gibt es solche, die von Konflikt geprägt und in einem sehr polemischen Ton gehalten sind (besonders 10–13). Wie passt das zusammen?
Aus der Forschungsgeschichte, die in maßvoller Breite besprochen wird (7–34), hebt V. vor allem die Ansätze von S. N. Olson und R. Bieringer hervor. Olson hat in seinen (zum Teil unveröffentlichten) Beiträgen davor gewarnt, Äußerungen von Zuversicht als Aussagen über das gegenwärtige Verhältnis zwischen Paulus und Gemeinde zu verstehen. Vielmehr seien diese Äußerungen vor dem Hintergrund antiker Papyri, Briefe und Reden als Appelle zu lesen, die auf die Verbesserung eines gestörten Verhältnisses zielten. In der Sicht Bieringers versteht Paulus den Umgang der Gemeinde mit dem Unrechtstäter ( ὁ ἀδικήσας, 7,12) als Mo­dell, dem die Glaubenden in Korinth auch im Hinblick auf die Gegner folgen sollen. Wie sie sich vom Unrechtstäter distanziert haben, so sollen sie sich nun auch in dem umfassenderen Konflikt mit den Gegnern auf die Seite des Paulus stellen (2,14–7,4; 10–13). Vor allem diese beiden Ansätze will V. verbinden und weiterführen. In seiner Sicht sind die positiv klingenden Texte im 2Kor keine Beschreibungen des Ist-Zustands, sondern Idealisierungen, die die Gemeinde er­mahnen und ermuntern sollen. Dasselbe Ziel der Versöhnung haben die harten, schneidenden Passagen, die dafür lediglich ein anderes Mittel anwenden. Nicht nur 2,14–7,4, sondern der gesamte 2Kor sei deshalb ein »letter about reconciliation« (37).
Ein eigenes Kapitel untersucht, welche Rolle Lob und Idealisierung in Rhetorik, Epistolographie und Psychagogie spielten (53–70). Es geht hier um die Mittel, mit denen vor allem Redner und Philosophen ihre Schüler und Adressaten zu beeinflussen versuchten. Zur epideiktischen Rede z. B. gehörte αὔξησις bzw. amplificatio, d. h. »enlargement, improvement or increase in significance in order to avoid the term exaggeration, which is usually viewed negatively« (56). Weil Redner wie Hörer von der übertreibenden Tendenz wuss­ten, gilt nach V.: »praise and idealization have their own form of truth« (61, Hervorhebungen übernommen). Auch die Psychagogie der Philosophen und eine bestimmte Art von Briefen (V. bespricht einen Brief Ptolemäus’ II. an die Einwohner von Milet) wollten durch Lob bei den Adressaten Verhaltensänderungen bewirken.
Ganz ähnlich schätzt V. das Lob in 2Kor 7,5–16 ein: »Paul praises and amplifies the partial reconciliation which has occurred, so as to exhort to full reconciliation« (71). Im Dienste dieser Versöhnung steht schon 2,5–11, denn dort geht es weniger um Vergebung ge­genüber dem Unrechtstäter als vor allem darum, den Konflikt zwischen der Mehrheit (2,6), die Paulus unterstützt, und der Minderheit, die auf der Seite des Unrechtstäters steht, beizulegen. So will Paulus die Minderheit für sich gewinnen. Dass er den Grad der Aussöhnung in 7,5 ff. bewusst übertreibt, zeigt zum einen der Vergleich mit 2,5–11, zum anderen die Wortwahl besonders in 7,16, die keinen Raum für einen Restkonflikt lässt. Was Paulus hier beschreibt, soll nach V. bei der Gemeinde ein Gefühl der Verpflichtung erzeugen, diese Darstellung Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Hauptthese des Buchs und die Art der Argumentation sind deutlich geworden. Nicht ohne eine gewisse Redundanz arbeitet V. am Text von 2Kor verschiedene Aspekte heraus, die alle vor dem Hintergrund rhetorischer Gepflogenheiten der Umwelt diese These stützen sollen und hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden müssen. Dabei gelingen ihm erhellende Deutungen. Die eigentlichen Probleme beginnen aber mit dem Übergang zu Kapitel 10–13. Auf der Linie des Tränenbriefs, der ja teilweise erfolgreich war, verwendet Paulus hier erneut Kritik und Drohungen. Damit befindet er sich nach V. wiederum in der Tradition hellenistischer Psychagogie und Epistolographie, denn Lob wurde in der Regel mit Tadel kombiniert. Nicht nur die kompromisslosen Kyniker, sondern auch Vertreter einer milderen Erziehungsauffassung wie Plutarch oder Seneca sahen in schweren Fällen schonungslose Kritik als notwendig an, wobei die zugefügte λύπη zur Umkehr führen soll. Vor diesem Hintergrund liest sich 2Kor 7,8–12 als Interpretationshilfe für die Kritik, die in Kapitel 10–13 folgt.
Der Verweis auf die »Sanftmut und Milde Christi« in 10,1 steht in einer merkwürdigen Spannung zu dem harschen Ton von 10,2–11. V. deutet den Kontrast so, dass Paulus schon in 10,1a einen Vorwurf aus der Gemeinde vorwegnimmt, die seine bisherige Zurück­haltung und Sanftheit als Schwäche und Feigheit verstanden hat. Indem er auf das Vorbild Christi verweist, wehrt sich Paulus gegen diese Unterstellung und gibt seinem Verhalten eine positive Deutung. Er würde gerne bei der bisherigen Milde bleiben, macht aber mit den militärischen Bildern 10,3–6 klar, dass er bei seinem bevorstehenden Besuch auch ganz anders auftreten und den Vorwurf in 10,10, er sei nur in den Briefen kraftvoll, widerlegen kann. Die harten Worte in 10,3–6 und überhaupt in Kapitel 10–13 sieht V. als eine Demonstration der Drohungen für den dritten Besuch im Sinne einer letzten Warnung, während die milden Töne in Kapitel 1–9 im Einklang mit dem bisherigen persönlichen Auftreten des Paulus in Korinth stehen, das er eigentlich bei seinem Besuch gerne fortsetzen würde. 2Kor soll die Voraussetzungen dafür schaffen.
Die Arbeit zeigt eine große Stärke darin, dass sie auf kühne Re­konstruktionsversuche zu den Gegnern und zur Situation in Korinth, wie sie noch vor kurzer Zeit üblich waren, verzichtet und stattdessen die Textpragmatik vor dem Hintergrund der philosophischen, rhetorischen und epistolographischen Konventionen der Zeit deutet. Auch wenn es dabei zu vielen Wiederholungen kommt und eine Straffung sinnvoll gewesen wäre, ist dieses Vorgehen doch einleuchtend. Erfreulich ist auch, dass V. die Arbeiten von S. N. Olson, dessen Dissertation zu »Confidence Expressions in Paul« unveröffentlicht geblieben ist, wieder ins Gespräch bringt. Ob V.s These zur Einheitlichkeit des 2Kor sich in der Forschung durchsetzen wird, bleibt allerdings abzuwarten. Mindestens zwei Probleme drängen sich mir auf:
1. Der (leider relativ kurze) Abschnitt »Criticism and Threats as a Device for Correction« (254–260) lässt zwar einige etwa zeitgenössische Stimmen zu Wort kommen, die harsche Kritik als letztes Mittel befürworten. Nirgends finde ich aber Beispiele für oder Hinweise auf eine so extreme Verbindung von Lob und Tadel, wie 2Kor sie darstellt. Hinzu kommt, dass hier – etwas überspitzt ausgedrückt – keine Mischung, sondern eine Abfolge sehr unterschiedlicher Umgangsweisen mit den Adressaten vorliegt, deren plötzlicher Umschwung in 10,1 auch von V. nicht wirklich erklärt wird.
2. In V.s Sicht ist Paulus ein großer Taktiker. Er kalkuliert genau die Wirkung der eingesetzten Mittel. In 2,5–11 z. B. geht es eigentlich nicht darum, den Unrechtstäter wieder zu integrieren, sondern die Minderheit zu gewinnen, die diesen noch immer unterstützt. In 7,4–16 geht es eigentlich nicht darum, Freude über die guten Nachrichten des Titus mitzuteilen und das Erreichte zu festigen, sondern Paulus ist schon wieder einen Schritt weiter und zielt auf eine Ausweitung dieser Versöhnung. Diese Anliegen mag er durchaus gehabt haben. Es besteht bei V. aber die Gefahr, die paulinischen Aussagen gar nicht mehr als solche wahrzunehmen, weil er sich ausschließlich für die textpragmatische Funktion der Sätze interessiert. Wer Paulus so sehr als gewieften Taktiker sieht, muss sich fragen lassen, warum die Kommunikation gerade mit der korinthischen Gemeinde nicht reibungsloser verlaufen ist.
Trotz dieser Bedenken ist V.s Buch ein stimulierender Beitrag zu einer Debatte, in der oft nur dieselben Argumente ausgetauscht werden. Der Weg ist richtig, auch wenn man Zweifel haben kann, ob er schon ganz bis zu V.s Ziel führt.