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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

696–698

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas

Titel/Untertitel:

Jesus und die Kirche. Was sagt das Neue Testament?

Verlag:

Herder: Freiburg-Basel-Wien 2007. 318 S. 8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-451-29099-2.

Rezensent:

Ulrich Luz

Söding schreibt sein allgemeinverständlich gehaltenes Buch in einer gesellschaftlichen Situation, wo weltweit »die Kirche ... neue Aufmerksamkeit auf sich« zieht. Was ist überhaupt die Kirche? Was ist ihre Aufgabe? S.s Grundthese lautet: »Nur mit Berufung auf Jesus kann die Kirche sprechen« (6). Aber der Zusammenhang zwischen Jesus und der Kirche ist auf Grund des neutestamentlichen Zeugnisses komplex und spannungsreich. Zwischen dem apologetischen Fundamentalismus katholischer und evangelischer Prägung, der diesen Zusammenhang selbstverständlich voraussetzt, und dem verbreiteten modernen Verdacht, »was in der Kirche über Jesus gesagt werde, sei ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Jesus selbst gesagt habe« (15), versucht sein Buch, einen Weg aufzuzeigen.
S.s Buch ist apologetisch, auch wenn es dies (m. E. leider!) nicht offen sagt. Es geht ihm um die Kontinuität zwischen Jesus und der Kirche. Diese ist nicht einfach aufzuweisen: Zwischen dem Gottesreich, welches Jesus verkündigt, und der Kirche, die durch diese Verkündigung entstanden ist, gibt es wesentliche Unterschiede. Die größten Stolpersteine beim Versuch, eine Kontinuität zwischen Jesus und der Kirche aufzuzeigen, sind einerseits Jesu Naherwartung, andererseits die von vielen geteilte These, der Jude Jesus habe in der Endzeit das Volk Israel zu Gott sammeln und zu Gott zurückrufen wollen, nicht jedoch eine eigene Kirche gegründet. Durch den Glauben an die Auferstehung ist die Botschaft Jesu überdies transformiert worden. Nur »wesentliche Grundelemente des Kirche-Seins« lassen sich direkt aus dem Neuen Testament begründen. S. formuliert das zu Beginn des Schlusskapitels »Jesus Christus als Grund und Maßstab der Kirche« so: »Die Kirche steht im Horizont des Reiches Gottes. Sie ist zurückbezogen auf die Prophetie Israels, hingeordnet auf die Zeitgenossenschaft mit den Juden und ausgerichtet auf eine Zukunft jenseits aller Zukunft, in der sich erfüllt, wofür Jesus gelebt hat und gestorben ist« (243). In diese große heilsgeschichtliche Kontinuität, welche auch für die Kirche Maßstäbe setzt, ist die Kontinuität zwischen Jesus und der Kirche eingestiftet. Das sachliche »Primat Jesu« vor der Kirche wird dabei mehrfach nachdrücklich betont (145 f.270–272).
Die großen Hauptkapitel behandeln »Gottesherrschaft und Kirche«, »Die Sammlung Israels und die Völker«, »Die Jüngerschaft Jesu«, »Tod und Auferstehung Jesu«. Die Gottesherrschaft, die Jesus verkündigt, ist von der Kirche klar zu unterscheiden: »Die Basileia ist konstitutiv, die Ekklesia konstituiert« (87). Jesus war überzeugt, dass Gott im Anbrechen seiner Herrschaft das Gottesvolk Israel neu erbauen würde; er war auch überzeugt, »von Gott als Vorarbeiter für diesen Neubau ausersehen zu sein« (94). Er verstand Israel ganz offen; »seinen Dienst zur Sammlung Israels [verstand er] als Basis des Heils auch für die Völker« (141). Konstitutiv ist für Jesus die »Familienmetaphorik«: »Jesus hat eine radikal positive Einstellung zu Ehe und Familie« (110). Die Familien, welche die zu Israel ausgesandten Jünger gastfreundlich aufnehmen, werden zu Keimzellen der späteren Kirche (149 f.). Die Jünger, allen voran Petrus, der in allen Jüngerlisten als der Erste erscheint (161; vgl. 186), partizipieren an Jesu Sendung. Zwischen Männern und Frauen besteht dabei (nur) ein relativer Unterschied: Auch Frauen folgen Jesus nach (Nachfolge heißt nach S. nicht dauerhaftes Unterwegssein mit Jesus), aber nur Männer gehören zum Zwölferkreis. Von seinem Tod wurde Jesus nicht überrascht, wahrscheinlich hat er ihn als Sühnetod im Sinn von Mk 10,45 verstanden. Die Einsetzung des Abendmahls versteht S. im Gegenüber zur Tempelaktion: »Jesu Letztes Abendmahl [war] ein Opfer ... Jesus agiert als Hausvater einer Tischgemeinschaft, wenn er Brot und Wein reicht, dankt und segnet. Aber er agiert als Priester, wenn er sich selbst als Gabe gibt und vom Vergießen seines Blutes spricht. In den Kernbeständen der Herrenmahlüberlieferung ... ist all dies angelegt« (224 f.). Soweit einige der wichtigen Thesen dieses Buches.
S. will seine Leser von der Kontinuität zwischen Jesus und der Kirche überzeugen. Sein Buch ist auf eine sympathische Art und Weise apologetisch, weil es die Argumente, die gegen diese Kontinuität sprechen, nicht verschweigt, sondern offen auf den Tisch legt und sie argumentativ zu entkräften sucht. Die These einer Kontinuität zwischen Jesus und der Kirche ist dabei auch für den Rezensenten von vornherein wahrscheinlich: Eine gewisse Kontinuität muss es historisch schon aus dem simplen Grund gegeben haben, weil die frühesten und maßgeblichen Glieder der Jesusgemeinden, aus denen nachösterlich die mehrheitlich heidenchristliche Kirche entstanden ist, sich bona fide auf Jesus berufen haben und nicht, wie Reimarus meinte, einen Betrug inszenierten.
Dennoch kann ich nicht überall, wo S. eine Kontinuität sieht, ihm folgen, und nicht überall dort, wo eine solche auch für mich besteht, sie gleich hoch bewerten. Für mich bleibt etwa das Problem der gescheiterten Naherwartung Jesu ein wirkliches Problem. Die Feststellung, dass die geschichtliche Zeit »im christlichen Sinn nur von ihrem Ende im Jenseits dieser Zeit her zu verstehen [ist]: dem vollendeten Reich Gottes, das nahegekommen ist und deshalb nahe bleibt« (81; vgl. 56), entspricht zwar einem im Neuen Testament selbst verbreiteten Versuch, dieses Problem zu bewältigen – aber das Problem selbst bleibt. Für mich als Heidenchristen bleibt es ein Problem, dass Jesus sich zu Israel gesandt wusste und nicht zu den Heiden und dass er nach aller Wahrscheinlichkeit auch keine Sondergemeinschaft namens Kirche neben Israel ins Leben gerufen hat. Natürlich hatte Jesus ein sehr offenes Israelverständnis, und wahrscheinlich ging es ihm um eine Neukonstitution des Gottesvolkes Israel im Anbruch von Gottes Reich. Aber dennoch könnte ich nicht einfach sagen, dass in Gal 3,26–29 »Jesus voll verstanden« sei (237).
Jesus ging es um Israel und gerade nicht um eine Kirche, in der nicht Jude noch Grieche etwas gilt! Ich denke zwar auch, dass Jesus mit seinem Tod gerechnet hat und dass der Kreis der Nachfolger eine Art Brücke zu den nachösterlichen Jesusgemeinden bildet. Aber S. hat diese Brücke so sehr verbreitert, dass er sogar von der »Nachfolge der Fünftausend« (192–194) spricht und unter dem Titel »Praxis der Nachfolge« von Gottes- und Nächstenliebe handelt (195–206). Die Besonderheit der Nachfolgeforderung Jesu wird dadurch eingeebnet: »Nachfolge« scheint schon bei Jesus das zu sein, was später – seit dem Markusevangelium – in der Kirche als Nachfolge Jesu durch alle Christen verstanden wurde. Auch S. kennt natürlich die »starken Gründe« der historisch kritischen Exegese gegen die Authentizität des Felsenwortes Mt 16,18, nimmt aber doch an, dass hier ein »vorösterlicher Kern« vorliege, der nachösterlich eine »Transformation« erfahren habe (165 f.). Der Name »Petrus«, der ihm von Jesus verliehen wurde, wird darum von ihm von vornherein im Sinne von Mt 16,18 gedeutet (163).
Überhaupt verschwindet bei S. die Unterscheidung zwischen »echten« und »unechten« Jesusüberlieferungen an vielen Stellen: So ist z. B. Mk 10,45 nicht eine »nachösterliche Addition«, sondern »im Ganzen eine nachösterliche Erinnerung an Jesus« (218), und auch beim Zwölferapostolat »ist die jesuanische Wurzel tief und stark« (157). Mit anderen Worten: Das Kriterium der Differenz – in diesem Fall zwischen Jesus und dem frühen Christentum – wird von S. immer wieder eingeebnet. Die Frage nach der Echtheit von Jesusüberlieferungen verliert so an Wichtigkeit. Darum kann S. manchmal auch matthäisch-redaktionelle Überlieferungen (wie z. B. Mt 5,13–16 [150] oder 21,14–16 [221] oder auch johanneische Überlie­ferungen (wie z. B. über den Lieblingsjünger [158–161]) in seine Erörterungen über Jesus einbeziehen. Dann aber wird es von vornherein schwierig, die Frage nach einer möglichen Diskontinuität zwischen Jesus und der frühen Kirche überhaupt nur zu stellen. Die Differenzen verschwinden im großen Konzept einer lebendigen Erinnerung an Jesus, der die nachösterliche Kirche treu geblieben ist, indem sie sie bewahrt und transformiert. Die mögliche Diskontinuität zwischen Jesus und der Kirche droht hier ihren Stachel zu verlieren und von einer alles dominierenden, aber sehr weit gefassten Kontinuität verschlungen zu werden.
Ich gestehe, dass mir diese Darstellung der Frage »Jesus und die Kirche« ein nicht geringes Bauchweh bereitet, vielleicht gerade deshalb, weil ich S.s Sichtweise in manchen einzelnen Fragen teile.