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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

693–694

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Salier, Willis Hedley

Titel/Untertitel:

The Rhetorical Impact of the Semeia in the Gospel of John.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. IX, 234 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 186. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-148407-0.

Rezensent:

Thomas Knöppler

Im Jahre 1922 trat A. Faure mit der These hervor, Johannes habe in seinem Evangelium eine »Semeia-Quelle« bzw. ein ganzes Wunderevangelium verarbeitet. Er stützte sich dabei auf die Zählung in Joh 2,11; 4,54 und den in Joh 20,30 formulierten Hinweis auf eine Auswahl von σημεῖα. Zur Durchsetzung dieser These hat vor allem R. Bultmann beigetragen. Eine große Zahl namhafter Exegeten ist ihm gefolgt. Dabei wurde die Strukturanalyse der »Semeiaquelle« vorangetrieben (J. Becker) und sogar der Wortlaut dieses »Gospel of Signs« rekonstruiert (R. T. Fortna). Schon früh wurde freilich auch Kritik an dieser These geäußert (M. Dibelius, J. Jeremias, W. G. Kümmel). Seit einiger Zeit werden jedoch die kritischen Stimmen lauter, die die Existenz einer solchen Quelle verneinen (so etwa E. Ruckstuhl, U. Schnelle, G. van Belle, U. Wilckens).
Der Vf. der von Graham Stanton betreuten Monographie, die im Jahr 2003 an der Cambridge University als Promotionsarbeit vorgelegt und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde, will sich in diese Diskussion zunächst nicht einmischen. Bei jüngeren Studien zur Thematik (S. Hofbeck, W. Bittner, Chr. Welck, M. Labahn) stellt der Vf. einen Mangel in der Berücksichtigung der frühen Leser- bzw. Hörerschaft des Textes fest. Diese Lücke will er füllen, indem er die Verwendung sowohl des Begriffs σημεῖον als auch der durch ihn bezeichneten Erzählungen im Joh durch eine Fokussierung auf deren rhetorische Funktion und frühe Rezeption analysiert.
Im Anschluss an die Einleitung, in der der Vf. vor allem seine Methodik erläutert (1–17), untersucht er die Verwendung des Be­griffs σημεῖον in der Septuaginta, den griechisch-römischen Quellen und den frühchristlichen Schriften, um Auskunft über die Assoziationen zu erhalten, die bei Lesern im späten 1. Jh. zu erwarten sind (18–45).
Im Hauptteil der Arbeit unternimmt der Vf. eine eingehende exegetische Diskussion des johanneischen Gebrauchs von σημεῖον in vier großen Textabschnitten: »The Beginning of the Signs« (Joh 1–4: 46–76), »Controversial Signs« (Joh 5–10: 77–119), »Signs of Life« (Joh 11–12: 120–141) und »The ›Sign of Signs‹« (Joh 13–21: 142–170). Jedes dieser vier Kapitel weist wegen seiner methodischen Festlegung auf Erzählkritik und Annäherung an den impliziten Leser eine gleiche Struktur auf. Nach einem knappen Überblick über den jeweiligen Textabschnitt gibt der Vf. zu den Vorkommen des Begriffs σημεῖον jeweils Auskunft über die Art der rhetorischen Funktion des johanneischen Gebrauchs (»Text to Reader«) und skizziert dann kurz das Verständnis der »Zeichen«-Sprache bei den ersten Lesern in ihrem kulturellen Umfeld (»Reader to Text«). Anschließend werden die σημεῖα-Erzählungen des betreffenden Textabschnitts jeweils zunächst aus der Perspektive des Autors (»Writing the Sign«) und dann aus der Sicht der Leser (»Reading the Sign«) analysiert.
Die Monographie endet mit zusammenfassenden Schlussfolgerungen (171–178), einer Bibliographie (179–206) sowie drei Regis­tern zu Autoren (207–209), Stellen (210–229) und Themen (230–234).
Im Ergebnis fungiert der dem Gerichtsmotiv nahestehende Begriff σημεῖον als Brücke zwischen der im vierten Evangelium vorliegenden Konzeption und der die Leser prägenden kulturellen Komplexität. Die σημεῖα-Erzählungen zielen auf die Überzeugung der Leser, dass Jesus der göttliche Messias ist (172), erweisen ihn als den von Gott gesandten, wahren Lebensspender und unterziehen die Vielzahl angeblich Leben versprechender Alternativen aus dem die Leser umgebenden kulturellen Milieu einer subtilen Kritik (17.170). Eine »Semeia-Quelle« hat auch der Vf. nicht gefunden.
Der Versuch einer Antwort auf die Frage nach der Leserschaft des vierten Evangeliums ist ohne Zweifel reizvoll. Und der vorliegenden Arbeit ist zu attestieren, dass sie die relevanten johanneischen Texte mit Sorgfalt interpretiert. Ein wesentlicher Mangel besteht freilich darin, dass die Darstellung der Verwendung des Begriffs σημεῖον in den antiken griechischen (und lateinischen) Schriften (einschließlich des Neuen Testaments) entschieden zu knapp geraten ist, um das tatsächliche Leserprofil zu erheben und belastbare Ergebnisse zu erzielen. Diese Unschärfe hat erhebliche Konsequenzen für den Erfolg der angewandten Methode: Verbleiben die Rezeptionsbedingungen der Leser im Nebel, so lässt sich über deren Verständnis johanneischer »Zeichen« wenig Konkretes aussagen. Daher kann die vorliegende Untersuchung allenfalls eine sehr hypothetische Antwort geben.