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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

688–690

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hernández Jr., Juan

Titel/Untertitel:

Scribal Habits and Theological Influ­ences in the Apocalypse. The Singular Readings of Sinaiticus, Alexandrinus, and Ephraemi.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XVII, 241 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 218. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149112-2.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Zeitgenössische Textkritik am Neuen Testament, so H., ist nicht mehr primär an der Urtextfrage orientiert, sondern an der Erforschung der Transmissionsgeschichte (28). Wegweisend sind hier Arbeiten von Epp und Ehrman gewesen (30–35.35–40). Ersterer hat in dem westlichen Text zur Apg antijüdische Tendenzen wahrgenommen, und Letzterer hat im Variantenbestand der Textzeugen zahlreiche Belege für eine »orthodoxe Verfälschung der Schrift« (»orthodox corruption of scripture«) ausgemacht, etwa in Lk 3,22, wo die Mehrheit der Textzeugen – gegen D – ein Zitat aus Ps 2,7 durch die Worte aus den synoptischen Parallelen ersetzt habe, und zwar deswegen, weil das Psalmenzitat als Zeugnis einer adoptianischen Chris­tologie verstanden worden sei, wie sie etwa in Röm 1,3–4 zum Ausdruck komme. An der Transmissionsgeschichte orientiert sind auch Arbeiten von Colwell und Royse, die sich der Erforschung von Schreibergewohnheiten in den Papyri gewidmet haben (41–46).
H. schließt sich dem Vorbild der beiden Letztgenannten an und überträgt ihre Methode auf die drei wichtigsten Majuskeln zur Apk Joh (Sinaiticus, Alexandrinus, Ephraemi rescriptus). Das zentrale Moment der Methode besteht darin, dass spezielle Aufmerksamkeit gerade dem gilt, was in der klassischen Textkritik gewöhnlich exkludiert wird, nämlich den Sonderlesarten bestimmter Textzeugen. Sie sind für die Rekonstruktion des Urtextes generell unerheblich, sofern nicht der Ausnahmefall geltend zu machen ist, dass nur ein Textzeuge die Archetyplesart bewahrt hat; dies gilt im Falle der Apk Joh etwa für den Codex Alexandrinus, vgl. vor allem ἀποκ-τανηθῆναι in Apk Joh 13,10 (97–100.124–125; κατήγωρ in 12,10 und ἀπῆλθαν in 21,4 scheinen mir – auch gegen NA27 – fragwürdig). Umso wichtiger sind die Sonderlesarten, so H., für die Erforschung der Schreibergewohnheiten: Sie verraten etwas über Abschreibegenauigkeit, Sprachkompetenz und theologische Prägung des Schreibers – Letzteres, sofern er absichtlich etwas verändert.
Die Arbeit von H. bringt wichtige Ergebnisse zu Tage. So stellt er für alle drei Textzeugen fest, was schon Royse für die Papyri konstatieren konnte: Die Schreiber haben ihre Texte eher gekürzt als ausgeweitet; der Grundsatz Lectio brevior potabilior ist also kritisch zu hinterfragen (74–75.126.193 etc.). Einmal mehr zeigt sich, wie wichtig es auch für die Rekonstruktion des Urtextes sein kann, die textkritische Methodik nicht auf generelle Annahmen zu gründen, sondern auf empirische Beobachtungen zu den Transmissionsbedingungen gerade des Textes, der zu rekonstruieren ist. Auch die statistischen Angaben bei H. zu den inhaltlich weniger relevanten Fehlertypen (Orthographica etc.) wird man dankbar entgegennehmen, nicht zuletzt aus sprachhistorischem Interesse (vgl. hierzu die Grammatica et Orthographica in der Göttinger Septuagintaausgabe).
Freilich gibt es auch Einwände zu erheben:
1. Verlässliche Auskünfte über Schreibergewohnheiten sind vorzugsweise Textzeugen zu entnehmen, die nachweisbar Abschriften eines anderen sind (Codices apographi); wer hier gutes Anschauungsmaterial braucht, findet es z. B. in der Theophil-Ausgabe von Marcovich, wo auch die Varianten der Apographi verzeichnet werden. Die Vorlagen der drei bei H. untersuchten Codices sind uns aber nicht erhalten. H. stellt sich zu wenig der Frage, inwieweit damit die Rekonstruktion von Schreibergewohnheiten erschwert wird.
2. Die Zahl der theologisch motivierten Lesarten ist – auch nach H. – nicht sehr hoch. Gleichwohl wird sie von H. immer noch überschätzt. Die Folge besteht darin, dass manche Sonderlesarten völlig überinterpretiert werden. Wenn der Sinaiticus in Apk Joh 3,14 etwa Christus an Stelle von ἡ ἀρχὴ τῆς κτίσεως τοῦ θεποῦ mit ἡ ἀρχὴ τῆς ἐκκλησίας τοῦ θεοῦ prädiziert, so wird man dies kaum als antiarianische Lesart (und damit »orthodox corruption«) qualifizieren müssen (so 90). Eher wird hier ein vom Prätext induzierter Flüchtigkeitsfehler vorliegen: Das Wort ἐκκλησίας begegnet kurz vorher in demselben Vers! Dies gilt erst recht, wenn die Vorlage *ΚΤΗСΕΩС oder *ΚΛΗСΕΩС gelesen haben sollte. Ähnliches gilt für Apk Joh 3,16, wo Christus der Gemeinde zu Laodizäa ankündigt, er werde sie aus seinem Munde ausspeien; der Haupttext bietet dort: Μέλλω σε ἐμέσαι ἐκ τοῦ στοματός μου. Der Sinaiticus hat hier (in der Prima manu-Variante) ΜΕΛΛΩ ΣΕ ΠΑΥΣΕ ΕΚ ΤΟΥ СΤΟΜΑΤΟ СΟΥ. Das ist m. E. schlicht Unsinn, wie ihn die Schreiber so oft produziert haben (vgl. die statistischen Angaben bei H.). Übersetzen kann man das nicht, aber H. tut es und entnimmt der Variante ein Bestreben, den Gottessohn nicht allzu stark mit Körperfunktionen in Verbindung zu bringen (90 f.).
3. Der Lectio brevior-Grundsatz ist in der Tat zu relativieren. Freilich bedarf das von H. bereitgestellte Argument, tendenziell seien die Texte in den Handschriften durchgängig kürzer als der zu vermutende Ausgangstext, seinerseits der kritischen Sichtung. Das Übergewicht der Omission kommt nämlich vor allem durch un­willkürliche Auslassungen zu Stande, die durch Aberratio oculi oder ein Homoioteleuton bedingt sind. Wie steht es aber mit dem Verhältnis von Kürzungen und Textausweitungen zueinander, wenn man diesen Faktor herausrechnet? Muss ich das Lectio brevior-Prinzip auch dann ausschließen, wenn ich es mit einer Simplex/Kompositum-Varianz zu tun habe (z. B. ἀναχωρέω versus ἐπαναχωρέω)?