Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

685–688

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin u. Schwemer, Anna Maria

Titel/Untertitel:

Jesus und das Ju­dentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XXIV, 749 S. gr.8° = Geschichte des frühen Christentums, 1. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149359-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Mit Bd. I »Jesus und das Judentum« hat Martin Hengels »Geschichte des frühen Christentums« zu erscheinen begonnen, die zweifellos die Summe des Gelehrtenlebens dieses großen Tübinger Neu­tes­tamentlers darstellen soll. Inwieweit das Werk auch als eine Summe neutestamentlicher Forschung im 20. Jh. angesehen werden kann, wird sich erst nach Abschluss des Gesamtwerkes beurteilen lassen. Der Horizont ist jedenfalls von Beginn an weit gespannt. Er reicht programmatisch über die Grenzen des neutestamentlichen Kanons ebenso hinaus wie über den zeitlichen Rahmen des 1. Jh.s n. Chr. »Die ›neutestamentliche Wissenschaft‹ hat«, so urteilt Hengel, »allzulange unter der Überbetonung der theologisch und kirchlich notwendigen, aber – historisch gesehen – fragwürdigen Grenze des Kanons und der Idealisierung der scheinbar allein wirklich theologisch ›interessanten‹ Autoren wie Paulus und Johannes als Vertreter des wahren ›Urchristentums‹ gelitten.« (18) Schon in diesem Urteil wird erkennbar, dass Hengel sich als einen Historiker des frühen Christentums versteht, der seinem Gegenstand im Kontext der ganzen Breite antiker Geschichte, Kultur und Religion gerecht zu werden versucht und gerade darin als Wissenschaftler einen Dienst für Theologie und Kirche leisten will. Auch in dieser Hinsicht knüpft er mit seinem »Versuch einer Darstellung des Werdens der Kirche« (19) an der Wende vom 20. zum 21. Jh. dort an, wo an der Wende vom 19. zum 20. Jh. große Gelehrte wie Adolf von Harnack und Theodor Zahn ihre Forschungsschwerpunkte hatten, im Überschneidungsfeld von neutestamentlicher Wissenschaft und Patristik, von biblischer Exegese und klassischer Altertumswissenschaft. Entsprechend kritische Beurteilung erfahren weite Teile vorwiegend der deutschen neutestamentlichen Forschung im 20. Jh., insbesondere immer wieder Rudolf Bultmann und die Mehrzahl seiner Schüler.
Wie schon frühere Werke so hat Hengel auch das vorliegende in Gemeinschaft mit seiner langjährigen Mitarbeiterin und Kol­legin Anna Maria Schwemer konzipiert und verfasst. Aus ihrer Feder stammen im Wesentlichen der erste Hauptteil zum Judentum (§§ 3 und 4) sowie ein Kapitel zu den Gleichnissen Jesu (§ 12). Positionsunterschiede zwischen beiden Autoren oder auch nur Differenzen in Tendenz und Stil der Darstellung sind aber nicht erkennbar.
§ 1 orientiert über die Periodisierung des darzustellenden Zeit­raums und den geplanten Aufbau des Gesamtwerkes. Demnach behandelt Bd. I nach einer rund 130 Seiten langen Darstellung des (vorwiegend palästinischen) Judentums im 1. Jh. n. Chr. die Wirksamkeit Johannes des Täufers und Jesu, also einen chronologisch sehr kurzen Zeitraum von nur wenigen Jahren. Bd. II soll dann »die eigentliche ›Frühzeit‹ des Urchristentums in statu nascendi« (9; alle Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original) umfassen, also die »ersten ca. 13 bis 18 Jahre« (8) zwischen der Entstehung der Urgemeinde nach Ostern und ihrer Verfolgung unter Agrippa I. (42/43 n. Chr.) bzw. dem Apostelkonzil (48/49 n. Chr.). Diese Phase bildet zusammen mit der anschließenden bis zur Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr., die in Bd. III dargestellt werden soll, eine zweite Epoche, »der zu Recht die Bezeichnung ›apostolische Zeit‹ zukommt«, da sie »von der Wirksamkeit der ›ersten Generation‹« beherrscht ist, »deren führende Männer, Jakobus, der Bruder Jesu, Petrus und Paulus, noch vor 70 hingerichtet wurden« (5). Bd. III wird aber neben dieser zweiten Periode der apostolischen Zeit, die »von den Nachrichten über Paulus beherrscht wird« (10), auch noch die erste Hälfte einer dritten Epoche enthalten, die mit Rudolf Knopf als die »nachapostolische« bezeichnet werden kann. Sie reicht von ca. 70 bis 138 n. Chr., dem Todesjahr Hadrians, und lässt sich wiederum in zwei Perioden unterteilen, in deren erste die Entstehung des größten Teils der neutestamentlichen Schriften fällt, »eine Zeit schöpferischer Verarbeitung der ›apostolischen‹ Botschaft« (11).
Der zweite Teil dieser dritten Epoche ist eine Zeit der aufbrechenden Gegensätze, zwischen Endzeiterwartung und Anpassung an den römischen Staat, freiem Wirken des Geistes und Entwick­lung innerer Ordnung, apostolischer Tradition und allmählicher Durchsetzung des monarchischen Bischofsamtes, aber auch, »da immer mehr Gebildete den Weg in die Kirche fanden, eine neue Zeit des theologischen Nachdenkens und Experimentierens« (13). Ihr soll Bd. IV gewidmet sein, der von Ignatius bis zum Beginn des 3. Jh.s reichen wird.
Es ist weder möglich noch sinnvoll, hier den Gang der Darstellung des vorliegenden ersten Bandes wiederzugeben. Da er zu weiten Teilen auf einer Fülle von bereits publizierten, bisweilen um­fangreichen Einzelstudien beider Autoren beruht, die in der Forschung breit rezipiert und diskutiert worden sind, sind die hier begegnenden historischen und exegetischen Urteile und Einschätzungen auch nicht überraschend. Beeindruckend ist, abgesehen von der immensen Fülle an Informationen sowohl zu den antiken Quellen als auch zur aktuellen internationalen Forschung, gleichwohl die innere Geschlossenheit der historischen Beurteilung des Wirkens Jesu und der Entstehung der Jesus-Bewegung, die im Rahmen der nun vorliegenden Gesamtdarstellung deutlich hervortritt.
Demnach bildete der messianische Anspruch Jesu die Mitte seines Wirkens und lässt allein auch sein Geschick ebenso wie die Entstehung der urchristlichen Bewegung als historisch nachvollziehbar erscheinen. Immer wieder stellt Hengel gegenüber einem »durchaus dogmatische(n) Wunsch …, die Person Jesu solle möglichst mit jüdischer Messiaserwartung nichts zu tun haben« (523), der s. E. die neutestamentliche Forschung im 20. Jh. weitgehend bestimmt hat (ausführlicher zu forschungsgeschichtlichen Zu­sam­menhängen z. B. 171–192.244–270.498–525), heraus, dass Jesus nur von dieser Mitte her verstanden werden kann (besonders im fünften Hauptteil »Jesu Vollmacht und messianischer Anspruch«, 459–548). Sie hat ihn mit dem Judentum seiner Zeit ebenso verbunden, wie sie zugleich auch das von ihm Unterscheidende an Jesus benennt. »In diesem zentralen Punkt der Person des Messias Je­sus… und der durch ihn gewirkten universalen Erlösung liegt das eigentlich Neue, in die Zukunft Weisende …« (33). Genau darin wurzelt aber auch der »Familienstreit« zwischen den urchristlichen Gemeinden und den Autoritäten des sich formierenden und normierenden Judentums, der eben deshalb von Beginn an »so heftig und schmerzhaft ausgetragen (wurde), weil es immer auch um die religiöse Wahrheitsfrage, um Gottes heiligen Willen ging … Gerade das Ernstnehmen der Wahrheitsfrage ist alttes­tamentlich-jüdisches Erbe.« (31)
Auch die schon mit Jesu messianischem Anspruch verknüpfte Hoffnung auf die endzeitliche Bekehrung der Völker zu dem einen Gott Israels barg in sich sowohl Einbindung in die wie auch Abgrenzung von den Heilstraditionen Israels. Denn: »Dieses Neue war zugleich das unerhört Anstößige, weil es … letztlich die Existenz Israels als allein erwähltes Volk, das heißt als politisch-religiöse Einheit, grundsätzlich getrennt von den Völkern der Welt, unter Umständen in Frage stellen konnte.« (35) »So betrachtet weisen Jesus und die von ihm ausgelöste weltweite Bewegung auf eine historisch verständliche, man könnte cum grano salis auch sagen legitime Möglichkeit in der Entwicklung des Judentums während der Spätzeit des Zweiten Tempels hin, die – auf einer profetisch-apokalyptischen Sicht der alttestamentlichen Tradition gründend – einen ganz anderen Weg einschlug als der rabbinische Zweig, der sich nach der Katastrophe der Tempelzerstörung formierte und den weiteren Weg des Volkes be­stimmte.« (36) Auch der Ausblick auf Paulus schon in diesem Zusam­menhang ist Teil der Konzeption von Hengels Darstellung Jesu.
Es ist deutlich, dass sich Hengel mit einer solchen Sicht dezidiert abwendet von einer Forschungsrichtung, die einen scharfen Bruch zwischen dem »historischen«, sprich: vorösterlichen Jesus und der Geschichte und Theologie des frühen Christentums sehen wollte. Seine Argumentation dieser Sicht gegenüber ist wieder primär historisch: Zum einen stellt er die Kontinuitäten zwischen der vorösterlichen Jesus-Bewegung und den nachösterlichen Gemeinden heraus, insbesondere die Personenkontinuität mit Blick auf die wichtigsten uns namentlich bekannten Autoritäten im frühen Christentum, die eine Traditionskontinuität über Ostern hinweg implizierte. Zum andern betont er, dass ohne eine »Bindung an Jesu Wirken in Wort und Tat …, die den Glauben an seine messianische Sendung als des Verkündigers der Gottesherrschaft, und das heißt zugleich an seine einzigartige Vollmacht, mit einschloß«, auch »der spätere Glaube der Jünger an die Auferstehung des ge­kreuzigten Messias Jesus als Gottes Heilstat« überhaupt nicht denkbar gewesen wäre. »Nur weil Ostern vorösterliche Erfahrungen und Erinnerungen bestätigte, kam es überhaupt zur Evangelienschreibung.« (172) Daher können Jesu Wirken und Leiden eben nicht, wie Bultmann und Conzelmann wollten, zu seinen »Voraussetzungen« gerechnet werden, »sondern sind Wurzel und Grund, man könnte auch sagen: der historische und theologische Ur­sprung des frühen Christentums; beides lässt sich nicht trennen, sowenig wie man die Auferstehung Jesu von seiner Passion abtrennen kann« (174).
Die einzelnen Teile der Darstellung des Wirkens Jesu sind im Großen und Ganzen biographisch angeordnet und folgen in groben Zügen dem Aufriss der Evangelienerzählungen. Auf Ausführungen zur galiläischen Herkunft Jesu und zu Johannes dem Täufer folgen Kapitel zu seinem Auftreten in Galiläa, zur Berufung von Anhängern, zur Verkündigung der Gottesherrschaft und des Willens Gottes und zu seiner Botschaft von der Vaterliebe Gottes. Zentralen Raum nehmen, wie schon erwähnt, Jesu Vollmacht (hier auch ein ausführliches Kapitel zu den Heilungen) und sein messianischer Anspruch ein, wobei dem auf Jesus zurückführbaren Gebrauch der Wendung »der Menschensohn« besonderes Gewicht zukommt, weil mit ihr gerade als nicht schon vorgeprägtem messianischen Titel in charakteristischer Weise »das Persongeheimnis Jesu selbst« zur Sprache kommt, »das auf das engste mit dem ›Geheimnis der Gottesherrschaft‹ und ihrer in Jesu Handeln bereits wirksamen, aber nach außen bis zum ›Anbruch in Macht‹ verborgenen Gegenwart verbunden ist« (534). Am Ende stehen ausführlich die Passion Jesu und das Zeugnis von seiner Auferstehung, insofern es als Abschluss eben auch zur Geschichte Jesu hinzugehört.
Wichtiger als die historische Beurteilung einzelner Traditionen und Konstellationen der Jesus-Überlieferung, über die es in der neutestamentlichen Forschung immer wieder unterschiedliche Meinungen geben wird und geben muss, scheint mir die von Hengel en gros et en detail herausgearbeitete grundsätzliche Einsicht in die Geschichtsbezogenheit des frühen Christentums zu sein, die das vorösterliche Wirken Jesu ebenso wie das Ostergeschehen und die nachösterliche Traditionsentwicklung bis in die Geschichte des antiken Christentums hinein umfasst. Wenn hierin unter Neutes­tamentlern Einverständnis erreicht werden könnte, hätte man am Ende der Forschungsgeschichte des 20. Jh.s und im Rückblick auf sie doch etwas erreicht und könnte sich nun den mit dieser Einsicht gegebenen historischen und theologischen Herausforderungen, die sich ja aus der neutestamentlichen Überlieferung selbst stellen, mit frischer Kraft und besserer Orientierung widmen. In diesem Sinne wäre dann Hengels Werk in der Tat so etwas wie eine Summe der neutestamentlichen Wissenschaft des 20. Jh.s.