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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1099–1101

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Mortensen, Viggo

Titel/Untertitel:

Theologie und Naturwissenschaft. Aus dem Dän. übers. von E. Harbsmeier

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1995. 288 S. 8°. Kart. DM 48,­. ISBN 3-579-00298-8

Rezensent:

Jürgen Hübner

Die Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft unter Einschluß der Philosophie mit dem Ziel, den Dialog zwischen den Disziplinen zu pflegen oder überhaupt erst zu eröffnen, wird heute wieder als wichtiges Desiderium erkannt. Dazu gehört die Aufgabe, die Bedingungen des Dialogs nicht nur zu erforschen, sondern auch fortzuschreiben. Die Aarhuser Habilitationsschrift des dänischen Theologen V. Mortensen, Leiter der Abteilung für Theologie und Studien im Lutherischen Weltbund, leistet hier einen wichtigen aktuellen Beitrag. Die gründliche, in der deutschen Ausgabe leider gekürzte, aber immer noch umfangreiche und, wie es dem Gegenstand angemessen ist, weit ausgreifende Arbeit gibt den internationalen Diskussionsstand in skandinavischer Perspektive eindrucksvoll wieder. Die Eigenart dieser Perspektive macht für den deutschen Leser noch einmal das Besondere und eigentümlich Anregende dieser Arbeit aus. Sie ist nicht nur in der Anknüpfung an und in Auseinandersetzung mit M. F. S. Grundtvig, K. E. Løgstrup und anderen skandinavischen Autoren, sondern auch im Duktus der dänischen Sprache, der auch in der qualifizierten deutschen Übersetzung erhalten bleibt, durchgehend spürbar. Dadurch lockern sich auch manche Erstarrungen der innerdeutschen Diskussion erfreulich auf.

M. tritt für eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenchaft ein, die er mit einem Ausdruck Grundtvigs "lebendige Wechselwirkung", in der Überschrift des letzten Kapitels "freundschaftliche Wechselwirkung" nennt. Ein vormodernes "Einheitsmodell" ist heute nicht mehr möglich, ein diastatisches "Restriktionsmodell" unzureichend. Der Naturwissenschaft ist Respekt zu zollen, ihre begründete Weltsicht aufzunehmen. Das gilt insbesondere für das Evolutionsmodell mit seinen modernen Ausfächerungen bis hin zu Soziobiologie und evolutionärer Erkenntnistheorie. Gerade hier zeigt sich aber die Gefahr der "Expansion", der weltanschaulichen Ausweitung wissenschaftlicher Theorien über ihren methodisch begrenzten analytischen Rahmen hinaus bis zu einem Naturalismus, der zur "Naturalisierung" der Wirklichkeitsbereiche führt. Diese müssen demgegenüber ihre eigenständige Bedeutung behalten: vorkulturelle Strukturen und Phänomene, Sinneswahrnehmung und vorwissenschaftliche Sprache (237). Die Dinge und Phänomene, "die gerade im täglichen Leben des Menschen als tragend erlebt werden" (13), wozu Stimmungen, Gefühle und Affekte gehören (245), bedürfen eigener Beachtung und Reflexion. Auslegung und Verstehen erfordern daher eine andere Sprache als Beschreiben, Vorhersagen und Kontrollieren, und das muß eine Sprache sein, "die wie die Alltagssprache sowohl Weite als auch Prägnanz besitzt (Løgstrup) und die Wirklichkeit, von der sie redet, deutet und so ins Leben ruft oder schafft" (14). Die Interaktion beider Erfahrungen und Zugänge zur Wirklichkeit zu ermöglichen und zu entwickeln, darauf kommt es Mortensen an. In diesem Sinne sind Theologie und Naturwissenschaft "ohne Vermischung und ohne Trennung, aber in lebendiger Wechselwirkung" (266 u. ö.) zu betreiben.

In einem I. Teil gibt M.einen Überblick über bisherige Modelle für das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Entscheidend für die neuzeitliche Problemstellung ist gegenüber der theologisch-kirchlichen Tradition der Umschlag der Fragerichtung gewesen: "Jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob sich wissenschaftliche Beobachtungen in die von Gott geschaffene Welt einordnen lassen, sondern es geht darum, ob Gott in die von Descartes und Newton geschaffene Welt paßt" (31). Gebrandmarkt wird grundsätzlich die Kriegsmetapher, die daraufhin das Verhältnis bis zum ersten Weltkrieg weitgehend bestimmt hat, um dann einige theologische und philosophische "Restriktions"versuche, die als "Standardmodelle" gedient haben, vorzustellen (K. Barth, L. Gilkey, die Unterscheidung von wissenschaftlicher und religiöser Sprache). Neue metaphysische Vermittlungsmodelle (A. N. Whitehead, Komplementarität) und wissenschaftliche und theologische "Expansions"versuche bieten Alternativen an. Mit letzteren setzt sich M. in seinem II. Teil ausführlich auseinander: "Zwischen Restriktion und Expansion" werden die "Naturalisierungs"programme im Bereich von Biologie, Anthropologie und Ethik als Herausforderung analysiert. In einem "evolutionären Epos" (146-155) werden jedoch die verallgemeinerbaren Ergebnisse der biologischen Forschung aufgenommen und gewürdigt, ebenso ihre bisherige theologische Verarbeitung, vorausschauend bei Luther (155-158 ­ eine bemerkenswerte Interpretation), dann bei Prenter, Jüngel, Moltmann und ­ mit besonderer Sympathie ­ Pannenberg. "Jenseits von Restriktion und Expansion" (Teil III) wird die Herausforderung der Naturalisierung speziell an die Theologie in sorgfältiger Auseinandersetzung mit dem seinerseits naturalisierend expandierenden Ansatz R. W. Burhoes und dem Kreis um die Zeitschrift Zygon, evolutionären theologischen Konzepten (G. Theißen, G. Altner), der Prozeßtheologie und den harmonisierenden Entwürfen von A. R. Peacocke und Ph. Hefner aufgenommen.

Sodann wird die "kosmophänomenologische Religionsphilosophie" Knud E. Løgstrups als möglicher Ort der Begegnung zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und theologischer Deutung in ihren Grundzügen dargestellt und diskutiert (229 ff.). Eine phänomenologisch und deskriptiv konzipierte Metaphysik bietet nach Mortensen die Möglichkeit, die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und dennoch ihren Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn Løgstrup u.a. eine Reihe "souveräner Daseinsäußerungen" festmacht, die zum Fundament einer auf Einheit angelegten ganzheitlichen Betrachtungsweise der Wirklichkeit ausgearbeitet werden, so nimmt Mortensen das als Bausteine für sein eigenes Konzept positiv auf. Gott bleibt die allgegenwärtige, Ganzheit schaffende Macht, die alles in seinem Sein hält. Kritisiert wird die vitalistische Tendenz in der Metaphysik Løgstrups, läßt sie sich doch biologisch falsifizieren. Doch strebt das Konzept der "lebendigen Wechselwirkung" seinerseits zuletzt doch auch ein einheitlich-ganzheitliches Verständnis der Wirklichkeit an, freilich unter Respektierung der jeweiligen Differenzierungen und damit notwendig gegebener Eigenständigkeiten. "Die Wirklichkeit ist eine Einheit, und das muß sich auch in der Art und Weise bemerkbar machen, wie wir von ihr reden" (260). Der "vereinende Gegensatz" beschreibt diese Einheit, und nicht zufällig kann die christologische Zweinaturenlehre schon bei Løgstrup dafür Pate stehen (262). Die Deutung alles Seienden im Licht der Offenbarung kann die naturwissenschaftliche Erkenntnis durch eine weitere Dimension bereichern (265). In ihr kommen ihre Voraussetzungen und Triebkräfte, ihre Ziele und Folgen und ein Gesamtbild der Natur mit einer geordneten Platzanweisung für den Menschen in den Blick (268). So ergibt sich ein gemeinsamer Horizont "sowohl für das theologische als auch das naturwissenschaftliche Projekt" (271). Er zeigt die Möglichkeit eines lebendigen gegenseitigen Austauschs, der sich bis zur Auswahl von Forschungsbereichen und dem Umgang mit Forschungsergebnissen erstreckt.

Auch wenn man der metaphysischen Einheitstendenz und dem Interesse an anthropologischen Konstanten im einzelnen nicht folgen mag, so wird hier doch ein gründlich bedachter und ausgearbeiteter Dialograhmen angeboten, der für das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft hilfreich ist. In seiner Absicht liegt, den Dialog auch wirklich zu führen, und hier gehören Wissenschafts- und Alltagssprache in der Tat zusammen, ohne daß sie doch miteinander vermischt werden dürften.