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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

672–674

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Boccaccini, Gabriele [Ed.]

Titel/Untertitel:

Enoch and the Messiah Son of Man. Revisiting the Book of Parables. Associate Ed.: J. von Ehrenbrook with the collaboration of J. H. Ellens, R. Ruark, and J. Winger.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XVI, 539 S. gr.8°. Kart. US$ 50,00. ISBN 978-0-8028-0377-1.

Rezensent:

Stefan Beyerle

Der umfangreiche Band dokumentiert das dritte Treffen des »Enoch Seminar« im Juni 2005 an geschichtsträchtigem Ort: im Kamaldulenser-Kloster nahe Arezzo. Das »Enoch Seminar«, 2000 gegründet, ist eine lose Vereinigung internationaler Forscher, die sich im Zweijahresrhythmus in Italien trifft. Ausgehend von Fragestellungen, die sich aus den Quellen des »henochitischen« Textkorpus ergeben (vor allem äthHen), werden Themen des antiken Judentums und frühen Christentums erörtert. Nach den vorangegangenen Dokumentationen zu »The Origins of Enochic Judaism« (Henoch 24/1–2, 2002) und »Enoch and Qumran Origins« (Grand Ra­pids 2005) widmet sich der anzuzeigende Sammelband den »Gleichnisreden« in äthHen 37–71. Zu Recht greift der Titel im Verweis auf den messianischen »Menschensohn« den entscheidenden Impuls für die Forschung an den Gleichnisreden auf.
Bereits der erste Abschnitt der Dokumentation, der sich mit der Struktur und Komposition von äthHen 37–71 befasst, kommt im­mer wieder auf Fragen der Redaktion und Datierung zu sprechen. Zudem bleibt zu beachten, dass die Gleichnisreden in ihren drei Sammlungen je vielfältig auf Motive und Material aus älteren Henoch-Texten wie vor allem das Wächterbuch (äthHen 1–36) rekurrieren. Darin stimmen G. W. E. Nickelsburg und M. A. Knibb in ihren instruktiven Beiträgen zur Komposition, die dann Benjamin Wright noch einmal zusammenfasst, überein. Gleichwohl divergieren beide Autoren im Blick auf die Datierung der Gleichnisreden: spätes 1. Jh. v. Chr. (Nickelsburg) bzw. spätes 1. Jh. n. Chr. (Knibb). L. T. Stuckenbruck greift diese Divergenz auf, um u. a. auf die offene Frage hinzuweisen, ob sich der ausschließlich in der äthiopischen Version bezeugte Text von äthHen 37–71 an aramäischen oder griechischen Vorläufern orientiert hat.
In seinem sechsten Abschnitt diskutiert der Sammelband dann ausdrücklich das Datierungsproblem. Während D. W. Suter vor allem an Texten wie äthHen 56,5–8; 67,4–13 oder am Fehlen von Qumranfragmenten zu den Gleichnisreden die Argumente einer Datierung in der Forschung überprüft (vgl. die Reaktion von M. E. Stone), diskutiert D. D. Hannah am konkreten Fall der möglichen Anspielung von äthHen 67,8–13 auf einen Besuch Herodes’ des Großen bei den Thermen von Kallirrhoë im Jahre 4 v. Chr. das Verhältnis der originär den Gleichnissen zugehörigen Passagen mit solchen, die Hannah einer apokryphen »Noah-Schrift« zuordnet. In­teressant ist auch H. Eshels Interpretation der möglichen An­spielung auf den Parther-Feldzug in äthHen 56,5 ff. als Pescher zu Dtn 33,9, wo eine innergentale Feindschaft in priesterlichem Milieu betont wird: Somit könne äthHen 56,7 als aktualisierende Deutung des Levispruches im Mosesegen verstanden werden, die ihren Bezug in der Verletzung des Hohepriesters Hyrkan II. durch seinen Neffen Antigonus finde. Insgesamt spiegelt die dokumentierte Diskussion eine Tendenz zur erneut »konservativen« Datierung der Gleichnisreden noch vor der Zeitenwende, jedenfalls weit ab von radikalen Früh- (R. H. Charles) oder Spätdatierungen (J. T. Milik) und mit dem Fokus auf den Parther-Feldzug 40 v. Chr. (vgl. auch Chr. Böttrich, in: BThSt 67 [2004], 53–90).
Sollte sich dieser Eindruck bestätigen, dann erhält, zumindest in chronologischer Hinsicht, die Diskussion um den »Menschensohn« im antiken Judentum neues Gewicht. Entsprechend breit hat der Sammelband diese Thematik mit Beiträgen von S. Chialà, H. S. Kvanvig, J. J. Collins, K. Koch, Ch. A. Gieschen und G. S. Oegema dokumentiert.
Vor allem Kvanvig arbeitet Parallelen der Visionen in den Gleichnisreden und dem Wächterbuch (äthHen 1–36*) heraus. Neben kompositorischen Übereinstimmungen benennt Kvanvig insbesondere terminologische Gemeinsamkeiten, unter denen der »Menschensohn« einen Schwerpunkt bildet. Dabei kommen die drei unterschiedlichen äthiopischen Bezeichnungen, die bisher gerne pauschal als »Menschensohn« gedeutet wurden, zum Tragen: walda sab’ (»Sohn der Menschheit«: äthHen 46,2–4; 48,2), walda be’si (»Sohn des Mannes«: 62,5; 69,29; 71,14) und walda ’egwala ’emma-cheyyaw (»Sohn der Nachkommenschaft der Mutter des Lebenden«: 62,7.9.14; 63,11; 69,27; 70,1; 71,17). Eine eindeutige Verbindung zu Dan 7,13 weise nur walda sab’ auf. Zugleich sei die Komposition der drei Gleichniskompositionen in äthHen 37–71 aus zwei Traditionen gespeist: einer visionären, jedoch nicht-messianischen aus dem Wächterbuch (vor allem äthHen 13 f.) und einer messianischen, u. a. aus Stoffen, die auch im biblischen Kanon ihren Niederschlag fanden. Hierzu gehören, wie Kvanvig schon an anderer Stelle betont hat, mesopotamische »Parallelen« und die Verbindung von äthHen 14 und Dan 7: Somit haben die Gleichnisreden letztlich Henoch mit dem danielischen »Menschensohn« identifiziert (vgl. auch äthHen 71). Collins, der sich in seiner Entgegnung vor allem mit Kvanvigs Essay auseinandersetzt, kritisiert insbesondere dessen Identifizierung Henochs mit dem »Menschensohn«, die in äthHen sowohl aus textkritischen wie literar­historischen Gründen anfechtbar scheint. Andererseits stimmen Chialà, Kvanvig und Collins darin überein, dass die Gleichnisreden den »Menschensohn« bereits als »messianische« Figur zeichnen. Dies zieht wiederum Koch in Zweifel: Während die national-davidische Linie im »Messias« zum Tragen komme, ziele der »Menschensohn« auf eine adamitische, universale Hoffnung. Ein weiterer, in der folgenden Sektion über das Verhältnis der Gleichnisreden zu anderen Quellen der Zeit des Zweiten Tempels dargebotener Beitrag von L. Walck gibt einen umfassenden wie interessanten Ein­blick in Vergleichbarkeiten der Menschensohn-Aussagen in äthHen mit den Evangelientexten.
Sodann unterstreicht G. Boccaccini in seinem Beitrag die vielfältige Einbindung der Motivik (»paradigms«) aus den Gleichnisreden, auch über den »Menschensohn« hinaus, in Vergleichskontexte antik-jüdischer Literatur. Boccaccini diagnostiziert erst für die römische Epoche eine Verknüpfung der weisheitlichen, eschatologischen und messianischen »Paradigmen« (neben den »Bundes«- und »Henoch«-Paradigmen), wobei das »weisheitliche« später ganz verschwinde (vgl. 4Esra, syrBar), zu Gunsten von »Tora«- und »Chris­tus«-Paradigmen in Rabbinentum und Frühchristentum. M. Henze und I. Fröhlich befragen zu Recht die relative Beliebigkeit und Oberflächlichkeit solcher »paradigms«. Und Fröhlich setzt den Paradigmen Boccaccinis das der Wächterepisode in äthHen 6–11 entgegen, das die Gleichnisreden beeinflusst habe. Letzteres gehört in die neuere Forschungstendenz, die »Gleichnisse« wieder stärker als Teil der Gesamtkomposition in äthHen zu sehen: Man beachte dazu die Beiträge im zweiten Themenabschnitt (vor allem J. C. VanderKam, E. J. C. Tigchelaar).
In einem zusammenfassenden Essay kreist P. Sacchi sachgerecht um die Fragen nach der Komposition, und hier insbesondere der literarischen Beurteilung von äthHen 70–71, sowie nach der Datierung – zumal beide Probleme nicht nur in nahezu allen Beiträgen zum Tragen kommen, sondern auch die gewichtige »Menschensohn«-Diskussion betreffen.
In der chronologisch angelegten Bibliographie (1773–2006) von J. von Ehrenkrook kommt ein Sammelband zu seinem Abschluss, der einen zentralen Text des antiken Judentums in vielfältiger, angemessener und auf der Höhe der Forschung befindlicher Weise diskutiert.