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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1097–1099

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ghiselli, Anja, Kopperi, Kari u. Rainer Vinke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther und Ontologie. Das Sein Christi im Glauben als strukturierendes Prinzip der Theologie Luthers. Referate der Fachtagung des Instituts für Syst. Theologie der Universität Helsinki in Zusammenarb. mit der Luther-Akademie Ratzeburg in Helsinki 1.–5.4.1992

Verlag:

Helsinki: Luther Agricola-Gesellschaft; Erlangen: Martin Luther-Verlag 1993. 185 S. gr. 8° = Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft, 31. Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg, 21. Kart. DM 14,­. ISBN 3-87513-088-X

Rezensent:

Ulrich Hutter-Wolandt

Innerhalb der Lutherforschung Skandinaviens kennt man die Spannungen nicht, die die Forschungssituation in Deutschland wesentlich beeinflussen, und enthält sich deshalb auch jeglichen lutherischen Konfessionalismus. Aus dem finnischen Bereich haben nach dem Zweiten Weltkrieg besonders die Arbeiten von Lennart Pinomaa, Risto Saarinen, Osmo Tiililä und Olavi Lähteenmäki in Deutschland Beachtung gefunden; durch deutsche Übersetzungen wurden sie aber auch von der internationalen Forschung zur Kenntnis genommen. Die Arbeiten der Finnen zeichnen sich dadurch aus, daß sie über die solide philologische und historisch-kritische Arbeit hinaus tiefer fragen, sich gleichsam das Wesentliche in Luthers Theologie zur Aufgabe machen.

Auf der Grundlage dieser Fragestellung ist in den letzten Jahren die Zusammenarbeit zwischen der Lutherakademie in Ratzeburg und dem Institut für Systematische Theologie an der Universität Helsinki vertieft worden. Die Ergebnisse der Arbeit werden zunächst auf Symposien vorgestellt und anschließend in der hauseigenen Reihe publiziert. "Luther und die Ontologie" war das Thema des Jahres 1992. Es ging darum, welchen "ontologischen Status" der "Christus praesens" innerhalb der Theologie Luthers einnimmt und "ob Luther eine besondere Auffassung über die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen vertreten hat" (8). Sechs der insgesamt neun Beiträge gehen der Frage nach, wie sich der ontologische Status des göttlichen Seins im Menschen zeigt (Tuomo Mannermaa, Simo Peura, Oswald Bayer, Antti Raunio, Theodor Jorgensen, Jouko Martikainen), und drei Beiträge befassen sich mit der bisherigen Forschung zur Realpräsenz bei Luther (Aleksander Radler, Albrecht Beutel, Risto Saarinen).

In seinem einleitenden Beitrag "Hat Luther eine trinitarische Ontologie?" weist Tuomo Mannermaa nach, daß bei Luther in den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe "opus" und "esse" zusammenfallen, "d.h. das Werk dieser Tugenden ist identisch mit ihrem Sein" (24). Dabei bezieht er sich auf die Augustin-Studien, die "Operationes" und die Galaterbrief-Vorlesung von 1516/17, wo sich Luther mit der scholastischen Theologie auseinandersetzt. Der Vf. sieht bei Luther eine trinitarische Ontologie, die das göttliche Sein einerseits relational und andererseits seinshaft auffaßt, da "die Bewegung (als Bewegung des Wortes) gerade das Sein Gottes ist" (27). Im Anschluß daran entwickelt Aleksander Radler in einem Korreferat "Theologische Ontologie und reale Partizipation an Gott in der frühen Theologie Luthers" neben dem ontologischen Aspekt das Problem der Analogie, das er als "eine Grundvoraussetzung ontologischen Denkens" betrachtet (32).

Auch beim Wort- und Sakramentsverständnis setzte sich Luther entschieden von der scholastischen Theologie ab. Simo Peura arbeitet in seinem Beitrag "Wort, Sakrament und Sein Gottes" heraus, daß die Vereinigung zwischen Christus und dem sündigen Menschen in wahrhafter, aber verborgener Weise stattfindet, und Christus so den Sünder an seiner Gottheit teilhaben läßt. So erlangt er das Heil. Diese Teilnahme am Wesen und den Eigenschaften Gottes, d.h. die deificatio, ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der Lutherforschung in Finnland geworden. Albrecht Beutel wendet sich in seinem Korreferat "Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirklichkeit Gottes bei Luther" gegen Vergöttlichung des Menschen: "Wir wollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa." (Von der Freiheit eines Christenmenschen), sieht aber eine Möglichkeit der Vermittlung beider Positionen im 1. Gebot.

Oswald Bayer geht von der These aus, daß Theologie auf den Dialog mit der Philosophie angewiesen ist. Dies zeigt er in der Abhandlung "Luthers Verständnis des Seins Jesu Christi im Glauben". Nach einer ausführlichen Auslegung des Liedes "Nun freut euch lieben Christen gemein" kommt der Vf. zu dem Ergebnis, daß das Sein Jesu Christi im Glauben "mir" gilt, "samt allen Gläubigen", d.h. ein Sein pro nobis, "das sich im ´pro vobis´ der Hingabe Gottes ­ des Vaters durch den Sohn im Heiligen Geist ­ zusagt, zueignet und mitteilt" (107). Im Blick auf das neuzeitliche Denken, das durch die Philosophie Kants wesentlich geprägt wurde, weist Bayer es als Illusion nach, daß dieses Denken und das Wesen des Menschen offen sind, wobei die "universale Verschlossenheit, die Sünde, immer schon überwunden ist; das Wesen des Menschen besteht in seiner Offenheit auf die Welt und auf die Selbstmitteilung Gottes hin, die ihrerseits die Offenheit und Empfänglichkeit des Menschen voraussetzt" (109 f.). Illusionslos dagegen ist einzig und allein ein Denken, das die Dialektik von Sünde und Gnade nicht überspielt. Dieses Denken in Dissonanzen, d. h. ein nicht auf ein einheitliches Gedankengebäude ausgerichtetes und in Letztbegründungszusammenhängen orientiertes Denken finden wir bei Luther. Im Korreferat "Sein und Leben Jesu Christi im Glauben bei Luther" schließt sich Antti Raunio der Auffassung an, daß man in die lutherische Theologie nicht neuzeitliches philosophisches Denken hineinlesen kann. Ein Kritikpunkt aber bleibt für Raunio, daß Bayer es versäumt, "die aus der fremden Gerechtigkeit entstehende ´eigene Gerechtigkeit´ (iustitia propria)" herauszuarbeiten (116). Für Raunio heißt das, daß Bayer nicht die "Kooperation des Menschen mit dem gegenwärtigen Christus" berücksichtigt (117) oder mit anderen Worten, daß das "Sein Christi im Glauben... für Luther die geistliche Gegenwart Christi im Glaubenden" ist (138). Daraus leiten sich alle ethischen Implikationen ab.

Während es in den beiden Beiträgen von Theodor Jørgensen "Wort und Bild bei Luther" und von Jouko Martikainen "Bild und Sein Gottes in der Theologie Luthers" um die Frage des bildtheologischen Denkens geht, wendet sich Risto Saarinen abschließend der Wissenschaftshermeneutik zu. Gegenstand seiner Abhandlung ist "Die Teilhabe an Gott bei Luther und in der finnischen Lutherforschung". Er will dabei Möglichkeiten und Grenzen der Lutherforschung aufzeigen, wobei sich die finnische Forschung in erster Linie von der Frage nach der sachgerechten Interpretation des historischen Luther leiten läßt.

Diese Ansätze der finnischen Forschung sollten auch im Lutherjahr 1996 beachtet und diskutiert werden. Denn es besteht kein Zweifel, daß sie eine eingehende systematische Beschäftigung mit dem Werk Luthers auch in Deutschland weiter voranbringen könnten. Bekannte Luthertexte werden durch diese Art der Fragestellung in einem vielfach neuen Licht interpretiert und gewinnen somit ein spezielles Profil. Einen Schatten auf die Arbeit wirft allerdings die mangelhafte Lektorierung des Bandes. Abhilfe an dieser Stelle sollte doch wohl möglich sein?