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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

643-644

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Noth, Isabelle, u. Christoph Morgenthaler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Seelsorge und Psychoanalyse. M. Beiträgen v. W. Drechsel, S. Heine, H. Kämpfer, Ch. Morgenthaler, E. Nase, I. Noth, H. Raguse, A. Reichmann, D. Seiler, A. M. Steinmeier, U. Wagner-Rau, M. Weimer, W. Wiedemann.

Verlag:

Kohlhammer: Stuttgart 2007. 192 S. gr. 8° = Praktische Theologie heute, 89. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-019972-9.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Angesichts der zahlreichen Arbeiten, in denen ebenfalls schon im Titel von »Seelsorge« und »Psychoanalyse« die Rede ist – darunter immerhin Schriften von C. G. Jung (1932), Walter L. Furrer (21972), Erich Fromm (71982) –, sowie im Hinblick auf die umfangreiche Seelsorgeliteratur, die den inneren Zusammenhang jener beiden Gebiete untersucht und bestimmt hat (vgl. pars pro toto den 1977 von V. Läpple und J. Scharfenberg edierten Sammelband »Psychotherapie und Seelsorge«), mag man sich über eine neuerliche Publikation mit dem lapidarem Titel »Seelsorge und Psychoanalyse« wie über ein zu spät gekommenes Buch wundern. Sobald man aber anfängt, das Buch zu lesen, wird deutlich, dass dieser Titel zu Recht ein weiteres Mal vergeben wurde: Das Buch nimmt eine umsich­tige Spurensicherung der Anfänge des Dialogs zwischen Seelsorge und Psychoanalyse vor. Es zeigt wichtige Weichenstellungen in der Neuorientierung der Seelsorgelehre vor allem im 1. Viertel des 20. Jh.s auf und konturiert deren revolutionierendes Potential. Die einzelnen Beiträge erörtern überdies die Hintergründe und durchaus theologischen Einsichten, die bei diesem Prozess Pate standen, und zeigen deren Wirkungen bis in die Seelsorgepraxis der Gegenwart auf.
Die in diesem Band zusammengefassten Beiträge gehen zum Teil auf eine Tagung über »Die Anfänge der theologischen Rezeption der Psychoanalyse« (7) zurück, die 2006 an der Universität Bern veranstaltet wurde. Dem entspricht es, dass es im ersten, historischen Teil des Buches gleich drei Mal um den Begründer der Pastoralpsychologie, Pfarrer Oskar Pfister, geht: Eckhart Nase, bekannt u. a. durch seine Dissertationsschrift zu »Oskar Pfisters analytische Seelsorge« (Berlin 1993), Hartmut Raguse, der sich seit Mitte der 90er Jahre insbesondere für die Verknüpfung psychoanalytischer mit exegetischen und hermeneutischen Fragen einsetzt, und Isabelle Noth (Pfarrerin, Habilitandin im Bereich der Pastoralpsychologie) markieren in eindrücklicher Weise die Anfänge einer sowohl die Seelsorgelehre als auch das theologische Denken nachhaltig beeinflussenden Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Ein­sichten und Methoden. Dies geschieht 1. unter Be­rücksich­tigung der Situation der Seelsorge zu Beginn des 20. Jh.s, 2. durch eine Erörterung der Beziehungen zwischen Freud und Pfister sowie 3. mit einer Analyse der Kontakte zwischen Oskar Pfister und Albert Schweitzer. Diese Beiträge arbeiten wichtige Weichenstellungen für spätere Diskurse der Seelsorgelehre heraus und sind durch ihre profunde Kenntnis der (zum Teil unveröffentlichten) Quellen nicht nur informativ, sondern auch spannend zu lesen.
Der zweite Teil des Buches geht auf ausgewählte psychoana­ly­tische Facetten der Seelsorgelehre ein. Dabei spielen folgende Schwerpunkte eine besondere Rolle: Der aus dem Dialog mit der Psychoanalyse hervorgegangene »Sprachgewinn« der Seelsorge (A. Steinmeier), die Relevanz des Symbolbegriffs für ein angemessenes, seelsorglich relevantes Glaubensverständnis (D. Seiler), die besondere Funktion der Religionskritik für die Kommunikation des Glaubens im Kontext von Seelsorge (Ulrike Wagner-Rau), der »Er­trag der Objektbeziehungstheorie für Theologie und Seelsorge« (S. Heine).
Im ersten und zweiten Teil des Werkes findet sich darüber hinaus je ein systematischer Beitrag, der grundsätzlich auf das Verhältnis von Psychoanalyse und Seelsorge eingeht und damit dem Titel des Buches in besonderer Weise gerecht wird. So zieht Ch. Morgenthaler eine knappe, in Thesen gefasste Bilanz hinsichtlich der Funktion der Psychoanalyse in der Pastoraltheologie; W. Drechsel steuert einen Kommentar zur Darstellung und Kritik der Psychoanalyse in der Seelsorgetheorie bei. Abgerundet wird das Buch in einem dritten Teil durch anwendungsorientierte Beiträge zur pastoralen Supervision, zum Verständnis von Gewalt, zum seelsorgerlichen Umgang mit psychischem Schmerz und zur Me­thodologie der analytischen Seelsorge Wilfred Bions.
Aus den in diesem Sammelband zusammengefassten Vorträgen und Aufsätzen geht klar hervor, dass die Integration und Reformulierung psychoanalytischer Modelle, Methoden und Ergebnisse in der Seelsorgelehre nicht bloß zu einem »Ansatz« der Seelsorge unter vielen geführt hat (wie in Beiträgen zur Poimenik gelegentlich zu lesen), dem man beliebige andere »Konzepte« (etwa gruppendynamische, systemische, biblische) alternativ und gleichrangig zur Seite stellen könnte. Vielmehr sind die aus dem Dialog von Seelsorge und Psychoanalyse hervorgegangenen Einsichten zumindest teilweise zu fundamentalen Prinzipien seelsorglichen Argumentierens und Arbeitens überhaupt geworden – und in ihrer Bedeutung für die Entstehung eines heute ausdifferenzierten methodischen Repertoires kaum zu überschätzen. Angesichts dessen dürften jene Kritiker einer psychoanalytisch durchdachten Seelsorge falsch liegen, die aus Gründen der heute stärker wahrgenommenen soziologischen Reflexionsperspektive von einem anstehenden »Paradigmenwechsel« oder gar einer programmatischen Abkehr von der (unterstellten) Dominanz psychoanalytischer Kriterien sprechen wollen.
In dem Buch sucht man vergeblich nach einem Beitrag, der sich an einem wenigstens groben Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der Seelsorgelehre versuchte und dabei den Ertrag des damit verbundenen Prozesses angemessen würdigte. Es ist schade, dass man sich nicht der Mühe unterzogen hat, den Sammelband dadurch stärker von einem Reader zu unterscheiden, dass man ihn mit Registern ausgestattet hätte.