Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

641-643

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Michel, Stefan

Titel/Untertitel:

Gesangbuchfrömmigkeit und regionale Iden­tität. Ihr Zusammenhang und Wandel in den reußischen Herrschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 309 S. m. Abb. u. Ktn. gr.8°. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02525-1.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Endlich wird wieder einmal eine Arbeit aus dem Bereich der Hymnologie vorgelegt – noch dazu eine treffliche. Es handelt sich um eine Qualifikationsarbeit (Diss. theol. Neuendettelsau 2006; Klaus Raschzok und Wolfgang Ratzmann) aus der Feder eines jungen Autors (Jg. 1975), der eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen will. Das relativiert erfreulicherweise Hermann Kurzke – im Vorwort von M. natürlich genannt –, der einst meinte, die einschlägige Aktivität von »Liebhabern und Privatgelehrten, Pfarrern im Ruhestand und verschwindend wenigen Universitätslehrern« sei geradezu ein Charakteristikum hymnologischer Forschung (FAZ 30.11.1999, L31).
M., derzeit Forschungsassistent an der Universität Jena, stellt sich drei Herausforderungen. Er bearbeitet erstens das Thema disziplinübergreifend, da (theologische) Hymnologieforschung auf dem Feld der Praktischen Theologie (Aszetik, Liturgik und, wie sich hier zeigt, Katechetik/Religionspädagogik), der Kirchengeschichte und auch z. B. der Buch- und Verlagsgeschichte stattfindet. M. scheut sich zweitens nicht vor der territorial-kirchengeschichtlichen Sistierung seines Gegenstandes: Er weiß um die hohe Bedeutung, ja Unentbehrlichkeit landeskirchengeschichtlichen Nachfragens und Konkretisierens im Rahmen der allgemeinen Kirchengeschichte. Drittens schließlich umspannen M.s Bemühungen einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten. Die durch den langen Zeitraum hohen Anforderungen an das Wissen von und das Verständnis für die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen von Gesangbuchentstehung und -gebrauch liegen auf der Hand.
Zwei ›Voraus-Teile‹ führen konzentriert und kundig an das Thema heran und räumen ggf. vorhandene (Wissens-)Defizite beim Leser beiseite. »Das Gesangbuch als Realie« bietet eine wichtige, nicht nur definitorische Klärung. Forschungsfragen ebenso (29 f.) wie etwa die nur selbstverständlich scheinenden Fragen nach den »Aufgaben des Gesangbuchs« (33 ff.) werden thematisiert. Trost, Wissen (Lehrbuch), Andachtshilfe (Erbauung, Gebetbuch), Be­kenntnis, ja – nicht zu unterschätzen – Familien-›Chronik‹: Eine ganze Anzahl von Funktionen sind dem Gesangbuch zugewachsen. So reicht das Interesse an Grundinformationen über dieses unglaublich verbreitete Literaturgenus weit über einen Kreis von Spezialisten hinaus: Die Seiten 21 bis 39 haben geradezu Grundwissenscharakter, das theologisch und kirchlich Verantwortlichen als hilfreich aufgetragen werden kann. Der zweite Teil umreißt das territoriale und inhaltliche Forschungsgebiet und bietet also eine Darstellung der reußischen Gesangbuch-›Landschaft‹. Dass man hier auch durch das Labyrinth der reußischen Linien geführt werden muss, versteht sich. Repräsentanz, gute Quellenlage, aber auch Verlagsgeschichte und erste Beobachtungen zur Prägung von Ge­sangbüchern kommen hier zur Sprache (41–102).
Schon die Richtungsangabe des Korpus der Arbeit (103–256), »Vertiefung ...«, signalisiert das Verfahren: Erstbeobachtungen zu fundieren durch entschlossenen Rückgriff auf die Quellen – reichlich auch handschriftliche (257–327). Spricht M. für diesen Hauptteil der Arbeit von »Fallstudien«, so ist das nicht Ausdruck der Verlegenheit, etwa Nichtzusammengehöriges nun doch noch mit einer losen Klammer zu umfangen. Sondern es ist dies die be­grifflich adäquate Benennung des nur durch aufmerksame Zu­wendung zum jeweiligen Einzelfall möglichen Erkenntniszugewinns. Zu schnelle Harmonisierung und Generalisierung gelängen hier nur auf Kosten der Konkretisierung. Und so muss es bei sehr unterschiedlichen Zugängen bei der Beschreibung von Ge­sangbuchgeschichte und -frömmigkeit bleiben: etwa vom biographischen (3/III und IV) über den buchgeschichtlichen (3/II) zum institutionsgeschichtlichen Aspekt (3/VII, Herrnhut) usw. M. bleibt auch gegenüber der eigenen Themenstellung – »regionale Identität« – ein Stück weit unabhängig, etwa wo er auf gerade nicht angestrebte Stiftung von regionaler Identität hinweist (155). Ja, gelegentlich plädiert M. sogar für eine Stornierung theologiegeschichtlicher Zeiteinteilung zu Gunsten solcher »allgemein-, kunst- und sozialgeschichtlicher Einteilung des Biedermaier« (218). Die Wahrnehmung eigener Frömmigkeit eines Bürgertums leitet hier.
Es kann nur angedeutet werden, welche erhellenden Potentiale die Arbeit für die Herausarbeitung der Charak­teristika von Pietismus, Erweckung, (später) Aufklärung und Biedermaier enthält. Hier verschränkt sich auch die regionale Be­ob­achtung mit dem Blick auf ganz grundsätzliche Perspektiven – im­merhin für ein Gesangbuch, das 90 (!) Jahre in Gebrauch war (ebd.).
Personen-, Lied- und Ortsregister sähe man gern um ein Sachregister ergänzt. Setzfehler sind selten, auch Computer-Fehler (204, Anm. 263).
Eine ausgezeichnete »Zusammenfassung«, nicht von einem Vollständigkeitsstreben belastet, empfiehlt sich als Einstiegslektüre, sollte aber den Nachvollzug dieser Studien durch aufmerksame Gesamtlektüre nicht gefährden. Es handelt sich um eine theologisch-hymnologische Arbeit, die nicht in – gewiss auch nötigem! – statistisch-deskriptivem Darstellen von Gesangbüchern verharrt, sondern die Zusammenschau wagt – bei allen Schwierigkeiten, die einem bei regionalgeschichtlichen Nachfragen nicht erspart bleiben. Man sagt wohl nicht zu viel: Die Arbeit ist hoffentlich anregend und beispielgebend für entsprechende Untersuchungen zu anderen Regionen.