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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

637-639

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Köser, Silke

Titel/Untertitel:

Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836–1914.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 573 S. m. zahlr. Abb. 8° = Historisch-theologische Genderforschung, 2. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-02232-8.

Rezensent:

Beate Hofmann

»Denn eine Diakonissin darf kein Alltagsmensch sein, sonst wird die Welt belogen.« Dieses Zitat von Friederike Fliedner aus der Gründungszeit der Kaiserswerther Diakonissenanstalt spricht eine Spannung an, auf der das Buch von Silke Köser aufbaut und die bis heute die Diakonie durchzieht: die Spannung zwischen beruflicher Orientierung in der diakonischen Arbeit und dem Selbstverständnis der Diakonissen als religiöser Gemeinschaft. Der Entwicklung und Veränderung dieses Spannungsfeldes geht K. am Beispiel der Kaiserswerther Diakonissenanstalt von der Gründung 1836 bis 1914 nach. Ihre zentrale Frage ist dabei, wie sich die kollektive Identität der Kaiserswerther Diakonissen im Wechselspiel aus Normierung durch die Anstaltsleitung und eigener Gestaltung durch die Diakonissen entwickelt hat.
K. spricht einleitend von zwei grundlegenden Beobachtungen am Quellenmaterial: von der semantischen Leerstelle »Diakonissin« einerseits (die es zu füllen gilt) und der Wertschätzung von Gemeinschaftsgefühl andererseits. Diese beiden Aspekte sind der Rahmen ihres Erkenntnisinteresses. Die Einleitung bietet neben einem kurzen Überblick über die Forschungsgeschichte der Diakonissenanstalt bereits die Hauptthese (20): Demnach gelang es durch Ordnungen, Leitbilder und Formen kollektiven Handelns, eine spezifische Diakonissenkultur zu schaffen, die anfangs von der Anstaltsleitung stark beeinflusst, aber zunehmend von den Schwes­tern mitgestaltet wurde. Dies haben sowohl veränderte Machtkonstellationen in der Anstalt als auch gesellschaftliche Umbrüche ermöglicht. Entsprechend verschieben sich zentrale Deutungsparadigmen von Demut und Selbstverleugnung hin zu spiritueller Gemeinschaft.
Hinter dem für die Untersuchung zentralen Begriff der »kollektiven Identität« stehen Erkenntnisse aus der Identitätsforschung, die in der Studie korreliert und fruchtbar miteinander ins Gespräch gebracht werden sollen. Durch die Verknüpfung verschiedener Forschungsperspektiven (Sozialpsychologie, Soziologie und Kulturwissenschaft) werden die Stärken der einzelnen Ansätze genutzt und ihre Schwächen vermieden. Besonders hervorzuheben ist die Genderperspektive von K. Ihr ist es ein Anliegen, zwischen den von der männlichen Leitung konstruierten Fremdbildern kollektiver Identität und den von der Frauengemeinschaft und den einzelnen Diakonissen beschriebenen Selbstbildern zu differenzieren und diese keineswegs gleichzusetzen, was die damaligen Machtverhältnisse verschleiern würde.
K. erschließt in einem ersten Hauptteil die Geschichte der Kaiserswerther Diakonissenanstalt und nutzt dabei Max Webers Herrschaftstypen als Theorierahmen für die Darstellung von Leitbildern und Ordnungen. Dabei wird deutlich, dass Fliedner in der Entwicklung des Diakonissenbildes oft pragmatisch und geleitet vom Familienmodell agierte. Interessant ist der korrigierende Einfluss von Friederike Fliedner, zumal eine gleichwertige weibliche Führungsperson in manchen anderen Diakonissenanstalten fehlte. Auch die Wechselwirkungen mit anderen Diakoniegründungen und der Frauenbewegung werden angesprochen. Für die Entwick­lung von Traditionen und Unternehmensmythen besonders prägend ist die Frage der Nachfolge. K. zeigt, wie in Kaiserswerth die traditionale Weitergabe von Charisma etabliert wird durch die Nachfolge von Familienmitgliedern (der Schwiegersohn Fliedners als Vorsteher, eine Tochter als Vorsteherin). Dadurch werden notwen­dige Reformen in der Anstaltsstruktur verhindert oder verzögert. Erst mit dem nächsten Führungswechsel bröckelt das Familienmodell und weicht einer neuen, institutionalisierten Führungsstruktur. Dadurch rückt auch die Rolle der Vorsteherin als zentraler Bezugsfigur für die Schwestern stärker in den Vordergrund. An die Stelle persönlicher Beziehungen zum Anstaltsleiter rückt die Verbindung zum Mutterhaus und der Gemeinschaft als Ganzer.
In einem nächsten Teil wird die Konstruktion der Diakonissen­identität durch Ordnungen, Leitbilder und Rituale nachgezeichnet. Hier liegt das Herzstück der Studie, dem eine intensive Quellenarbeit zu Grunde liegt. Als Theorierahmen für die normierende Wirkung der Hausordnungen fungiert Erving Goffmans These von der totalen Institution, die auf die Anstalt übertragen und deren spezifische Ausprägung als »gendered institution« herausgearbeitet wird. Auch das theologische Verständnis des Diakonissenamtes wird erarbeitet. Demnach betont Fliedner drei Aspekte (196): die christozentrische Perspektive, die soziale Ausrichtung und die besondere Wertschätzung des Gemeinschaftscharakters. Daraus entwi­ckelt sich ein Verhaltensideal, das als »Liebe auf Socken« (207, das Zitat stammt ursprünglich aus einer Anweisung für Nachtschwestern) charakterisiert wird und Freundlichkeit, Sanftmut und Geduld sowie schwesterliche Liebe und Gehorsam akzentuiert. Auch Demut, Selbstverleugnung, Hingabe und Tüchtigkeit werden als zentrale Eigenschaften einer Diakonissin genannt. Durch die gleichzeitige Professionalisierung der Krankenpflege, in der Kaiserswerth besondere Verdienste erworben hat, entsteht die Spannung zwischen Religiosität und Professionalität, von Dienst in der Welt und Weltabgewandtheit.
In Kaiserswerth wurde »Ordnungspolitik als Mittel der Identitätspolitik« (315) betrachtet. So wurde die erste Hausordnung schon formuliert, bevor sich überhaupt eine Frau gefunden hatte, die Diakonissin werden wollte. Es zeigte sich sehr schnell, dass die Realität Änderungen nötig machte: In den Untersuchungszeit­raum von 1836 bis 1914 fallen mehr als sechs Überarbeitungen. Am Anfang steht ein Entwurf für eine neue Lebens- und Arbeitsmöglichkeit für alleinstehende Frauen mit strengen Vorgaben für einen bis ins Kleinste geregelten Tagesablauf und vieles andere. Die Dauerspannung zwischen den Vorgaben des Gründers der Anstalt und ihrer Akzeptanz durch die Diakonissen zieht sich durch das ganze Kapitel, ob es sich um die Bindung der Diakonissen an das Mutterhaus handelt, um die Entwicklung biblischer Leitbilder für den Diakonissenberuf oder um die Einführung neuer kollektiver Handlungen in Gestalt von Festen und Ritualen. Dabei wird Fliedner als engagierter Anstaltsleiter und vielseitiger Initiator immer neuer Integrationsmöglichkeiten und gemeinschaftsbildender Kommunikationsformen vorgestellt. Für eine aktive Mitgestaltung des Zusammenlebens durch die Diakonissen entstehen erst relativ spät offizielle Mitsprachemöglichkeiten. Eigene Handlungsspielräume erscheinen eher via negationis, z. B. wenn Diakonissen schon vorab darum bitten, dass ihr Nekrolog nicht veröffentlicht werden soll, oder dass bestimmte Lieder im Kaiserswerther Diakonissenliederbuch einfach nie gesungen werden und in späteren Auflagen dann nicht mehr erscheinen oder wenn von der Leitung eingeforderte Briefe nicht geschrieben werden.
K. begründet die Entwicklung der Anstalt zu einer totalen Institution nicht aus dem Interesse an Machterhalt, sondern »weil (1) sie damit auf vorhandene bürgerliche Geschlechtsstereotypen zu­rück­griff und diese weiterentwickelte sowie (2) die Organisationsform Anstalt die gewünschten Ergebnisse bezüglich Nachhaltigkeit und Effektivität zu garantieren schien – nur strenge Organi­sationen waren starke Organisationen« (312). Die Rigidität der Kai­serswerther Vorschriften, die Mutterhäuser im Ausland oft gelockert haben, deutet K. als »Spiegel des Widerstandspotenzials« (445), das so gebändigt werden sollte.
Insgesamt zeigt dieser dritte Teil des Buches, wie durch die Ordnungen und auch durch narrative Texte, z. B. durch Lebensläufe, die kollektive Identität der Diakonissen geformt wurde und darin wenig Spielraum für eigene Interpretationen ließ. Im Bereich der Rituale war das etwas anders. Hier gab es – neben den festgelegten Ritualen wie der Einsegnung – auch Nischen, z. B. die Gestaltung der Einsegnungsjubiläen oder die Jahresfeste, bei denen die Diakonissen neben der hierarchischen Ordnung auch Gemeinschaft erleben konnten.
Im vierten Kapitel kommen schließlich durch die Analyse von Briefen und Selbstzeugnissen von über 50 Diakonissen die Frauen selbst zu Wort. Dabei werden z. B. Eintrittsmotive deutlich, nämlich eine Mischung aus dem Wunsch, versorgt zu sein, und nach einer christlichen Existenzweise, aber auch soziale Hintergründe: So waren 75 % der Frauen, die vor 1914 eintraten, unter 29 Jahre alt und 75 % waren Halb- oder Vollwaisen. Die Dokumente zeigen, in welchem Maße die Schwestern sich im Laufe der Zeit mit den anfangs vorgegebenen Leitbildern und Zielen ihrer Lebensform identifiziert haben, so dass man im Blick auf die Kaiserswerther Diakonissen am Ende des Untersuchungszeitraums von einer kollektiven Identität sprechen kann, die in manchen Aspekten stärker von den Mitschwestern als von der Mutterhausleitung eingefordert wurde. Außerdem tritt das religiöse Bewusstsein stärker in den Vordergrund, während der Gehorsam – wohl auch im Zuge gestiegenen Selbstbewusstseins und veränderter Frauenroll e– eher in den Hintergrund rückt. Dieser letzte Hauptteil ist etwas knapp geraten, was aber an der vergleichsweise schmalen Quellenbasis liegen kann. In vieler Hinsicht aufschlussreich ist das ausführliche Quellenverzeichnis in Abschnitt VI; ein Register fehlt leider.
Fazit: K. ist ein sehr gut lesbares Buch gelungen, das intensives Quellenstudium durch gute Zusammenfassungen bündelt und damit das Erkenntnisinteresse der Untersuchung im Fokus behält. Die Studie bereichert die Diakoniegeschichtsschreibung um einen Beitrag, der die vielfältig idealisierenden Perspektiven der Gründerväter kontrastiert mit den Selbstzeugnissen der Diakonissen und so nachzeichnen kann, wie sich für Frauen aus dem fremdbestimmten Beruf »Diakonisse« allmählich ihre eigene Berufung entwickelt.