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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

634-636

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klessmann, Michael

Titel/Untertitel:

Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008. XIII, 499 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2293-7.

Rezensent:

Wolfgang Drechsel

Das Seelsorgelehrbuch von Michael Klessmann füllt eine Lücke. Kommen doch die letzten großen Lehrbücher von Winkler und Ziemer langsam »in die Jahre«, was sich vor allem darin ausdrückt, dass sich der poimenische Diskurs inzwischen deutlich verändert hat. Lässt sich Winkler als letzter großer Gesamtentwurf der beratenden Seelsorge mit klarem psychoanalytischem Hintergrund verstehen, so zeigt sich Ziemer als stärker narrativ geprägte Vermittlungskonzeption, die durch den Gegensatz von therapeutisch orientierter und glaubensbezogener Seelsorge geprägt ist. Beide Konzeptionen haben auch weiterhin ihre Bedeutung, doch hat sich gerade in den letzten Jahren die Seelsorgelandschaft immer weiter ausdifferenziert. Dies führt dann allerdings – bei Weiterbestehen von latenten oder auch expliziten Ansprüchen auf das gesamte »Thema Seelsorge« – zu entsprechenden Konflikten bzw. gegenseitigen Be- und Abwertungen.
K. eröffnet diesen weiten Horizont postmoderner Vielfalt der Seelsorge und schreitet ihn mit systematischem Interesse ab. Er nimmt dabei eine Struktur auf, die sich bereits in seinem Lehrbuch »Pastoralpsychologie« (Neukirchen 2004) bewährt hat und ist so durchgehend darauf bedacht, in einem Höchstmaß an Wertfreiheit das Nebeneinander unterschiedlichster Positionen zu entfalten.
Diese Haltung zeigt sich exemplarisch in § 3 »Dimensionen der Seelsorge im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert«, der auf die eher einführenden Paragraphen zu »Seelsorge in gegenwärtigen Lebenskontexten« und »Das Bedeutungsfeld Seelsorge« folgt. Hier entfaltet K. unter dem Thema der Multidimensionalität das Ne­beneinander von alltäglicher, kerygmatischer, therapeutischer, ritueller, politisch-gesellschaftlicher bzw. philosophisch-lehrhafter und ethischer Dimension der Seelsorge. Wirkt ein solches »un­vermischt und unverwandelt« im Blick auf Inhalte und Strukturen dieser Dimensionen bisweilen auch sperrig, so gelingt es K. auf diese Weise zum einen, die »klassische Alternative« kerygmatisch-therapeutisch aufzusprengen und neue Sichtweisen als fundamental für die Seelsorge zu benennen. Zum anderen geht er einen wesentlichen Schritt über die bislang üblichen Verhältnisbestimmungen auf der normativen Ebene hinaus und überwindet sie so.
Der Entfaltung dieser Dimensionen in unterschiedlichsten Einzelperspektiven dienen dann die folgenden Abschnitte. Wie es bereits im Untertitel des Buches »Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens« zum Ausdruck kommt, erfährt dabei das Seelsorgethema eine deutliche Erweiterung über die »klassischen« Themen beratender Seelsorge »Begleitung und Begegnung« hinaus (von denen auch K.s »Pastoral­psychologie« geprägt war). K. bietet eine spezifische glaubensbezogene Vertiefung: Diese wird breit entfaltet in § 5 »Seelsorge als kirchliches Handeln« (auf der Basis des Gedankens »Seelsorge als Grundfunktion der Kirche«), § 6 »Seelsorge als Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens« und § 7 »Lebenskonflikte und ihre theologische Deutung in der Seelsorge«. Hatte die »Pastoralpsychologie« die Intention, eine Praktische Theologie auf der Ebene von Kommunikation und Beziehungspraxis zu entwerfen, so entfaltet K. jetzt das Thema »Seelsorge« immer auch unter seinem Glaubensbezug. Dadurch gelingt ihm, als ausgewiesenem Vertreter der Seelsorgebewegung, die Integration eines Bereichs, dessen Verlust die Gegner der Seelsorgebewegung dieser immer wieder vorgeworfen haben.
Aus den folgenden Paragraphen (»Seelsorge und Psychotherapie«, »Seelsorge und Ethik«, »Die Person des Seelsorgers/der Seelsorgerin«) sei vor allem § 11 (»Spezielle Seelsorge«) herausgehoben, in dem K. ausführlich auf die sich gegenwärtig immer weiter ausdifferenzierenden Seelsorgefelder (wie z. B. Gemeinde-, Alten-, Schul- oder Notfallseelsorge) in ihrem durchaus disparaten Nebenein­ander eingeht. Ausgerichtet an der klassischen Tradition der Seelsorgebewegung als einer »Seelsorge-Ausbildungs-Bewegung« (Zie mer) beschließt ein Paragraph zur »Seelsorgeausbildung« das Lehrbuch.
Ohne hier auf die unendliche Fülle an Details einzugehen, über die man durchaus diskutieren kann (wie z. B. über die inhaltliche Bestimmung von Schulseelsorge), lässt sich im Blick auf die inhaltliche Ebene der einzelnen Abschnitte und Kapitel festhalten: Sie ist durch den Lehrbuchcharakter des Gesamtprojekts geprägt. Zu jedem Thema wird der Stand der Diskussion eingehend referiert, von Praxisbeispielen begleitet und dann in Leitsätzen bzw. exemplarischen Literaturverweisen zusammengefasst. Diese Konzentration macht auf der einen Seite den Lesefluss eher mühsam, vor allem weil sich durch die immer wieder neuen Annäherungen an das Seelsorgethema gewisse Wiederholungen kaum vermeiden lassen. Zugleich aber bietet K. für die Arbeit mit einzelnen Kapiteln eine klare Basis – sowohl im Blick auf Einführung und Information als auch im Blick auf Anregung zum eigenständigen Wei­terdenken.
So entfaltet K. einen fast schon enzyklopädisch zu nennenden Theorieentwurf: Dieser vermittelt nicht nur einen wirklich differenzierten Überblick über den Stand der gegenwärtigen Seelsorge, er bietet auch einen innerhalb der Tradition der Seelsorgebewegung mit ihrer Betonung von Praxis und Unmittelbarkeit des Seelsorgelernens notwendigen theoriebezogenen Gegenpol, der genau diesen Praxisbezug reflektiert. Und er entfaltet die pluralisierte Seelsorgelandschaft aus einer nicht-normativen Perspektive, wo­durch die traditionelle Poimenik-Polemik als Abwertung der Vorgänger und als Profilierung der eigenen Position auf exemplarische Weise aufgehoben erscheint. Gerade darin zeigt sich, dass durch K.s »Seelsorge« nicht nur eine Lücke gefüllt wird, sondern ein solides Lehrbuch präsentiert wird, das gerade in seinem Überblicks- und Informationscharakter als Nachschlage- und Arbeitsbuch wirklich zu empfehlen ist.
Dabei sind es allerdings gerade diese positiv zu würdigenden Aspekte, die dann im Kontext poimenischer Theoriebildung auch Fragen aufwerfen. Allen voran die Frage nach dem Verbindenden in der ausdifferenzierten Seelsorgelandschaft: Gibt es so etwas wie eine Einheit der Seelsorge, in, mit und unter der konstatierten Multidimensionalität? Dies gilt sowohl auf der Ebene der Grundperspektiven wie auch auf der Ebene des Nebeneinanders völlig unterschiedlicher Seelsorgefelder und der von ihnen induzierten Konzeptionsbildungen (z. B. Altenseelsorge – beratende Seelsorg e– Notfall). Könnte es nicht sein, dass das Konstatieren von Multidimensionalität auch Paradoxien und Gegensätze innerhalb der Seelsorge verschleiert und nach aller (notwendigen) Abgrenzung gegen vorschnelle Normativität letztendlich aus christlicher Perspektive wieder neu nach den leitenden Werten gefragt werden muss? Und damit in engem Zusammenhang: Welche Rolle spielt– über eine Lebensdeutung des Glaubens hinaus – die Theologie als kritische und konstruktive Basis der poimenischen Theoriebildung? Oder: Wie ist eigentlich die Verhältnisbestimmung in Gemeinsamkeit und Abgrenzung zwischen Pastoralpsychologie und Seelsorge?
So lässt sich festhalten: K. hat einen Entwurf von Seelsorge vorgelegt, der die Interessen und Perspektiven der Seelsorgebewegung auf umfassende Weise zusammenfasst, in der Frage nach der »Lebensdeutung des Glaubens« weit über dieselbe hinausgeht und einer postmodern sich ausdifferenzierenden Seelsorgelandschaft Rechnung trägt. Auch mit den dadurch ausgelösten Fragen stellt K.s »Seelsorge« einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen poimenischen Theoriebildung dar.