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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

633-634

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haizmann, Albrecht

Titel/Untertitel:

Indirekte Homiletik. Kierkegaards Predigtlehre in seinen Reden.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 302 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02422-3.

Rezensent:

Thomas Klie

Im Modus historischer Homiletik einen Lehrer der Kirche praktisch-theologisch zu rehabilitieren, ist das Verdienst der Tübinger Habilitationsschrift von Albrecht Haizmann. In dem Maße, wie die deutschsprachige Theologie und Religionsphilosophie Kierkegaard vornehmlich auf Dialektik (Barth), existenziale Interpretation (Bultmann) und religiöse Innerlichkeit (Hirsch) reduzierte, verblasste der Prediger und Homiletiker Kierkegaard. Diesem Aufmerksamkeitsdefizit fielen auch seine »Reden« zum Opfer. Dass gerade die erbaulichen Reden derjenige Teil seines Werkes sind, der am wenigsten Beachtung fand und findet, ist der durchgehende Grundton der Kierkegaard-Rezeption. Der Vf. löst mit seiner homiletischen Rekonstruktion und der damit verbundenen Wahrnehmung der Reden »als genuinem und tragendem Teil des Gesamtwerkes« (25) somit ein Forschungsdesiderat ein: »zu einer Zeit, in der die Homiletik sich bereits anschickt, das 20. Jh. zu ›historisieren‹, dürfte es ... höchste Zeit sein, wenigstens nachträglich dem homiletischen Beitrag Kierkegaards im neunzehnten, seinen Spuren im zwanzigsten und seiner Bedeutung für das 21. Jh. Aufmerksamkeit zu schenken « (27). Mit diesem Programm ist der Anspruch der vorliegenden Arbeit deutlich formuliert, und hieran auch ist ihr wissenschaftlicher Ertrag zu messen.
Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte: Rezeptionsgeschichte – Thesen – Rekonstruktion – Exempel. Im ersten Teil bietet der Vf. auf 26 Seiten eine pointierte Bestandsaufnahme über anderthalb Jahrhunderte kritischer Kierkegaard-Lektüren. Dabei tritt deutlich zu Tage, dass die dominierende religionsphilosophische Lesart der Werke des großen Dänen eng korreliert mit der systematischen Ausblendung eines erheblichen Konvoluts im Textkorpus. Vom Umfang her machen die Reden immerhin etwa ein Drittel am Gesamtwerk aus. Umso hilfreicher sind hier die beiden summarischen Aufstellungen am Ende des Kapitels (29 ff.): eine chronologische Übersicht (die sehr schön die Korrespondenz zwischen den Reden und den übrigen Schriften im Gesamtwerk zeigt) sowie eine vollständige Auflistung der Reden. – Im zweiten Teil werden auf 24 Seiten die drei zentralen Arbeitshypothesen entfaltet: 1. die Reden sind das Hauptwerk Kierkegaards – die Pseudonyme bieten hier lediglich »Klärung und Annäherung«; 2. die Homiletik bildet in Kritik und Theoriegestalt das theologische Integral des Gesamtwerks und 3. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik gründet in umfangreichen homiletischen Prolegomena, den pseudonymen Schriften. Das dritte und mit gut 160 Seiten längste Kapitel ist der materialen Entfaltung dieser zweiten und dritten These gewidmet. Hier unternimmt der Vf. den interessanten und überaus instruktiven Versuch, anhand klassischer homiletischer Kategorien und im dialektischen Rekurs auf die Pseudonyme aus den Reden ex post eine konsistente Predigtlehre zu destillieren.
Im Blick auf die »homiletische Situation« nimmt Kierkegaard eine vermittelnde Stellung ein. Die Kanzelrede ist weder reine Darstellung christlicher Befindlichkeit (gegen Schleiermacher) noch eine erweckliche Missionspredigt, vielmehr eignet ihr eine doppelt reflexive, dialektische Gestalt. Die Klärung der hermeneutischen Voraussetzungen hat ihren genuinen Ort in der Predigt selbst. Es geht ihr immer um die Bedingungen der Möglichkeit, Christ zu werden innerhalb der Christenheit. Mit Recht hebt der Vf. hervor, dass diese Fragestellung prinzipiell keineswegs überholt ist, zumal Kierkegaards gesamte Homiletik auf den »Hörer« abzielt. Indem sie sich ausschließlich an der Wirkung der Rede orientiert, ist hier implizit das gegenwärtige ästhetische Paradigma bereits antizipiert. Der »Prediger« teilt also seine Deutungshoheit mit dem Hö­rer – eine ungeheuerliche Provokation im dänischen Luthertum des 19. Jh.s. Im Bezug auf den »Text« stößt eine das Normalschema voraussetzende Rekonstruktion an ihre Grenzen, denn Kierkegaard bestimmt den Gegenstand der Predigt als das Menschliche, mate­rial als das Christliche und formal als das Mögliche. Der Predigttext stellt lediglich die je konkrete Gegebenheitsweise des Gegenstandes dar, er ist auszulegen im Blick auf die in ihm angelegten Tiefenstrukturen, d. h. die »generative Grammatik neuer Entfaltungsmöglichkeiten des Menschlichen« (202). Mit dem letzten Gedankenschritt, der »Aneignung«, schließt sich der homiletische Zirkel. – Die in Kapitel IV präsentierten fünf Einzelinterpretationen dienen dem Vf. einerseits als Verifizierung der zuvor erarbeiteten Kategorien und andererseits als eine exemplarische Differenzierung.
Die Untersuchung bietet dem Leser eine kenntnis- und detailreiche Darstellung der Kierkegaardschen Homiletik. Alle Thesen sind sauber aus den Quellen gearbeitet und plausibel systematisiert. Die Erwartung aber, dass diese Systematik in Beziehung gesetzt wird zur homiletischen Theoriebildung in jüngerer und jüngster Zeit, wird enttäuscht. Die sporadischen Bezugnahmen sind lediglich im Fußnotenbereich abgehandelt. Dies ist umso misslicher, als sich dem an der Predigtlehre interessierten Theologen viele Analogien geradezu aufdrängen – in unerwarteter Aktualität, aber auch in deutlicher ideengeschichtlicher Distanz.