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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

629-631

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fröchtling, Andrea

Titel/Untertitel:

»Und dann habe ich auch noch den Kopf verloren ...«. Menschen mit Demenz in Theologie, Seelsorge und Gottesdienst wahrnehmen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 523 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 38. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02639-5.

Rezensent:

Thomas Klie

Eine praktisch-theologische Monographie zum Phänomen der Demenz füllt eine Forschungslücke. Die Gründe dafür sind zu evident, um sie en détail zu diskutieren: der demographische Wandel mit allen seinen direkten und indirekten Konsequenzen für die christlichen Kirchen. Je mehr Menschen das sog. vierte Lebensalter erreichen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, in Diakonie, Gottesdienst und Seelsorge Kontakt zu dementen Menschen zu be­kommen. Diesbezüglich eine hiercharchiefreie und nicht an Defiziten orientierte Sichtweise argumentativ zu stärken und theo­logisch zu begründen, ist das Anliegen der Neuendettelsauer Habilitationsschrift von Andrea Fröchtling. Auf 460 Seiten (zuzüglich eines umfangreichen Literaturverzeichnisses von 45 Seiten) verfolgt die Vfn. das »postkoloniale« Ziel, »das reduktionistische biomedizinische Konstrukt von Demenz« in Frage zu stellen und darüber den »Eigen-Sinn« von Menschen mit Demenz freizulegen (28). Hierbei sollen dominierende Menschenbilder destruiert, ein dichtes Bezogensein restauriert, psychosoziale Umwelten konstruiert und ludische Zugänge eingespielt werden (20).
Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel mit einem kurzen Epilog. Nach einem einleitenden Abschnitt (Methodologie, Terminologie) geht es im 2. Kapitel um die gegenwärtig in Theologie, Medizin und Gesellschaft wirksamen Altersbilder. Danach werden Therapieansätze bei Alzheimer-Demenz und im 4. Teil die systemische Sicht auf dieses Krankheitsbild dargestellt. Bevor sich das zentrale 6. Kapitel den poimenischen Implikationen widmet, geht es im 5. Abschnitt um eine theologische Einordnung. In den beiden ab­schließenden Kapiteln werden eine poimenische Spieltheorie vorgestellt (7.) und liturgisch-homiletische Wahrnehmungen re­flek­tiert (8.). – Die Gliederung in Unter- und Teilkapitel fällt ex­trem kurzschrittig aus, oftmals bekommen schon zwei oder drei Seiten eine gesonderte Überschrift. Über diese Zergliederung – das In­haltsverzeichnis erstreckt sich über fast sieben Seiten – verlieren sich leider oftmals die großen gedanklichen Linien. Das bisweilen eklektische Staccato der Zitate tut sein Übriges.
Positiv hervorzuheben ist, dass in die gesamte Darstellung im­mer wieder Passagen aus Gesprächen mit Dementen einfließen, die die Vfn. zwischen 2001 und 2006 mit einer nicht genannten Anzahl von Befragten im Raum Hannover/Peine führte. Das Alter der Interviewpartner bewegt sich zwischen 78 und 89 Jahren (36). Eine eingehende Interviewanalyse erfolgt nicht, das em­pirische Material wird eher illustrativ als Belegressource ge­nutzt.
Seine besondere gesellschaftliche Brisanz erhält das Demenz-Thema, so hebt es die Untersuchung mit Recht hervor, durch das kulturell imprägnierte Motiv der Jugendlichkeit. Dieses »kultisch überhöhte« Leitbild verhindere »eine differenzierte Wahrnehmung von Altersphänomenen« und es fördere geradezu ein »ge­rontophobisches Verhalten« (58). »Ageism« in Medizin, Politik, Kirche und Arbeitswelt ist eine der Folgen dieser Differenzwahrnehmung. Konstrukte und Dekonstruktionen bestimmen die Dis­kurse. Die narzisstische Kränkung, Autonomie und Reflexivität bedroht zu wissen, bildet den Ausgangspunkt für die jeweilige Bewertung von Demenz. In diesen Zusammenhang reihen sich auch die Altersbilder der »hebräischen Bibel« ein (74 ff.). Die im 3. Kapitel dargestellten medizinischen und therapeutischen Perspektiven sind zwar zum Verständnis des Krankheitsbildes hilfreich, aber für eine praktisch-theologische Wahrnehmung bringt die additive Darstellungslogik verhältnismäßig geringe Erkenntnisfortschritte. Die Massierung von Spiegelstrich-Auflistungen stillt nicht die »Wut des Verstehens«. Hier wäre eine stärker systematisierende und stärker theologisch fokussierende Aufordnung des Materials deutlich weniger redundant.
Sehr viel erhellender sind die Ausführungen zur systemischen Einordnung von Demenzerkrankungen im 4. Abschnitt (127 ff.). Die Theoriebildung verzichtet allerdings auf Bezüge zur Systemischen Seelsorge, was im Blick auf einen insgesamt poimenischen Schwerpunkt der Arbeit durchaus erwartbar wäre. Das stellt insofern ein gewisses Manko dar, als die längeren Verbatim-Passagen, die in diesem Kapitel präsentiert werden, in ihrem hermeneutischen Eigenwert nicht immer voll zur Geltung kommen. Die be­schreibende Ansammlung bringt zwar den Facettenreichtum in allen seinen sozialen Belangen zum Ausdruck, aber der rote Faden, auf den alle diese beängstigenden Phänomene aufgereiht werden könnten (und praktisch-theologisch auch müssen!), ist in der Fülle der Details nur schwer identifizierbar. Von weitreichender Be­deutung ist allerdings der Hinweis darauf, dass im deutschen Kontext – im Unterschied zu den USA – die kybernetische Praxis im Blick auf demente Gemeindeglieder noch völlig unterrepräsentiert ist: »Spirituelle Unterstützung durch die jeweilige Religionsgemeinschaft bedeutet vielfach auch das Angebot des Re-framings von Erlebtem und Erhofftem.« (159)
Im fünften, theologischen Kapitel wirft die Arbeit grundlegende Fragen auf nach der anamnetischen Funktion der Religion, nach Identität und Gottebenbildlichkeit, Ich-Du-Relationen (Buber) und Eschatologie: »Religiöse Sprache von Menschen mit Demenz erscheint nicht-dementen Menschen vielfach als ein dreifaches extra nos: Als diejenigen, die uns so ›ganz anders‹ erscheinen, wenden sie sich auf so ›ganz andere‹ Art und Weise an den, der uns oft als der ›ganz Andere‹ erscheint, und zwar oft in einer Unmittelbarkeit, die große Nähe signalisiert.« (177) Durchaus im Rahmen traditioneller Deutungen wird die bei Dementen zentrale Identitätsproblematik mit der Fragment-These H. Luthers diskutiert (192 ff.). Das sechste und mit 160 Seiten längste Kapitel beleuchtet unterschiedliche Aspekte einer seelsorglichen Begleitung. Deutlich markiert sind hier die Biographiearbeit und die leiblichen Aspekte poimenischer Zuwendung. Archimedischer Punkt ist dabei die »Mit-Menschlichkeit Gottes«, die in der theologischen Rede von der In­karnation hervortritt. Angemessene Seelsorge muss »greifbar« und »fühlbar werden« (224), auch und gerade in traditionellen Wortlauten wie dem Vaterunser und dem 23. Psalm (ein eindrückliches Interakt findet sich auf S. 239 f.).
Leider laufen auch in dem zentral gestellten Seelsorgeabschnitt die theoretischen Konturen etwas ineinander; man sieht oft den (poimenischen) Wald vor lauter (Aspekt-)Bäumen nicht. Der interessierte Leser wünscht sich bei fortlaufender Lektüre theoretisch begründete Relevanzfilter. Störend sind auch die vielen künstlichen Worttrennungen zur Betonung von metaphorischen Mehrfach-, zumeist Doppelcodierungen (»ver-rückte«, »er-leben«, »ab-wegig« usw.). In der hier kultivierten Häufung wirken diese Sti­lisierungen in einer wissenschaftlichen Qualifikationsschrift ein­fach nur affektiert.
Neuland betritt die Vfn. in den letzten beiden Abschnitten, wenn sie die Demenz-Seelsorge in den Horizont eines spieltheoretischen Paradigmas rückt (»Aspekte eines ludischen Seelsorgeverständnisses«, 377 ff.) und die liturgisch-homiletischen Kontexte beleuchtet. Vor allem die Gottesdienstrezeptionsforschung steckt im Blick auf alte (und demente) Menschen noch in den Kinderschuhen. Es bleibt zu hoffen, dass die Vfn. diesbezüglich eine breite Diskussion initiiert. Lesenswert ist diese Monographie in jedem Fall, der interessierte Leser findet hier eine anregende Zusammenstellung authentischer Rede und pluraler Theoriezugriffe.